Franz Hartmann – Die Bergpredigt

Die Bergpredigt

Franz Hartmann (1888)

Franz Hartmann

Der Autor Franz Hartmann war ein Rosenkreuzer, Theosoph, Freimaurer sowie Autor von esoterischen Werken, christlicher Mystik und Gnostik. In diesem Text erläutert er seine Interpretation der Bergpredigt Jesu’. Seiner Ansicht nach ist die ewige Wahrheit aus dem Inneren des Herzens in sich selbst durch die Tat zu verwirklichen. Franz Hartmann vertritt die Meinung, dass der Mensch sich als Werkzeug der göttlichen Kraft erkennen soll.

 

Auch in der Wissenschaft gibt es keine Klarheit ohne die Erkenntnis der Wahrheit. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit äußerlichen Erscheinungen, die Philosophie mit dem innerlichen Leben, in welchem die Wahrheit sich offenbart; sie ist die Erkenntnis der Wahrheit selbst und lehrt nichts anderes als sich selbst; sie stützt sich auf keine Beweise; wird die Wahrheit erkannt, so ist die Erkenntnis da. Damit ist alles gesagt. Ben Pandira war nun stark geworden, indem er durch die ihm innewohnende Kraft Jehoshuas den Wahn der Eigenheit zurückgedrängt hatte; die Erkenntnis war zu ihm gekommen und er empfand nun den Beruf ihre Lehre zu verkünden. Früher hatte er die Gegenwart des Geistes der Wahrheit empfunden, so wie ein blinder Mann die Wärme des Sonnenlichtes empfindet, obgleich er das Licht selbst nicht erblicken kann, aber jetzt waren seine Augen geöffnet; es war helle in seinem Verstande geworden, und er erkannte das Licht, welches seine Seele erleuchtete. Liebe und Verstand hatten sich in ihm vereinigt, und aus diesen beiden entstand das Licht, durch welches die Wahrheit durchdrungen, und er erkannte diesen Geist als sein wahres ewiges Selbst, welches für alle Menschen der eine Weg zur Unsterblichkeit ist. Er lehrte in vielen Städten und Dörfern von Galiläa; ja in alle Zweige der Wissenschaft und Philosophie drang ein Strahl der Erkenntnis ein, sobald die Wahrheit erschien.

Die Ruhe und das Licht, welches in seinem Innern herrschte, erfüllte sein ganzes Wesen und verklärte sogar die äußere Erscheinung. Von Ort zu Ort wanderte er und erweckte die schlafenden Erinnerungen an längst vergessene geistige Lehren, und wo er erschien, da erwachte die Liebe und aus dieser entsprang die Erkenntnis; selbst durch die verschlossenen Türen der Menschenherzen drang der Geist der Wahrheit ein; aber wenn die Synagogen ihm den Eintritt verwehrten, so wählte er als sein Hörsaal die freie Natur, und die Sterne am Himmel gaben Zeugnis für ihn. Auch machte er nicht viele Worte und bedurfte keiner weitschweifigen Redensarten, denn das Wort der Wahrheit sprach sich selbst durch ihn aus. Er hatte nicht nötig, Ideen zu sammeln und sie zu neuen Gedanken zusammenzusetzten; denn alles, was er lehrte, war von der einer Idee durchdrungen, welche in den wenigen Worten ausgedrückt werden kann: „Mensch, erkenne Dich selbst!“ Unter den Rednern dieser Welt gibt es viele menschliche Papageien, welche nur mechanisch die Phrasen wiederholen, welche ihnen beigebracht worden sind, ohne deren Sinn zu verstehen; andere holen sich aus der Rumpelkammer der Phantasie von klugen Menschen erfundene Theorien, suchen sich dabei das, was ihnen am hübschesten dünkt, heraus und konstruieren daraus ein Spielzeug, um damit dem Publikum die Zeit zu vertreiben; wieder andere werden durch einen fremden Geist, den sie selbst nicht kennen, zum Sprechen gebracht, und da sie ihn nicht kennen, wissen sie nicht, ob es der Geist der Wahrheit oder der Lüge ist; wer aber durch die Kraft der Erkenntnis mit dem Geiste der Wahrheit vereinigt ist, der erkennt ihn auch, denn dieser Geist ist er selbst.

So braucht der Vogel im Walde keinen Schulmeister, der ihm vermittelst einer Drehorgel das Singen lehrt, und in wem das Wort der Wahrheit spricht, dem braucht es nicht erst vorgeorgelt zu werden. Wenn das Herz die Wahrheit empfindet, so entspringen daraus die Gedanken und aus den Gedanken das Wort. Da vernimmt dann das Ohr die Worte, der Verstand fasst die Gedanken auf, aber der darin enthaltene Geist wird nur vom Geist erkannt. Wohl denen die nicht auf äusßere Worte zu hören brauchen, sondern in denen die Wahrheit selbst auf dem Berge des Glaubens sitzt und sie durch ihr eigenes Wort belehrt. Vielleicht lohnt es sich der Mühe, dasjenige was Jehoshua auf dem Berge lehrte, einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

In der griechischen Übersetzung eines alten syrio-chaldäischen Manuskripts findet sich hierüber Folgendes:

1) Als Jesus aber das Volk sah, ging er auf einen hohen Berg, und nachdem er sich gesetzt hatte, kamen seine Jünger zu ihm.
Als die intellektuellen Kräfte des Menschen nach der Erkenntnis der Wahrheit strebten, da erschien die Wahrheit auf dem Gipfel des Berges des Glaubens und nachdem sie von der höchsten Region der Seele Besitz ergriffen hatte, sammelten sich die heiligsten Empfindungen um sie.

2) Und er öffnete seinen Mund und lehrte sie und sprach:
Da öffnete sich das Herz des Menschen und das Licht erhellte den Verstand und die Stimme der Weisheit sprach:

3) Unsterblich a) sind, die da den Geist der Selbsterkenntnis atmen ; denn ihnen gehört die Überwelt.
Der Atem Gottes im Weltall ist die geistige Liebe, und ohne deren Besitz gibt es keine wahre Erkenntnis. Nicht durch Träumen, noch durch Dünken und Wähnen, oder durch Schlußzieherei wird das Reich Gottes in der Seele sich offenbaren, sondern durch das Erwachen zum Bewusstsein der Unsterblichkeit.

4) Unsterblich sind, die da trauern, denn es wird für sie gesorgt werden.
Wenn die Seele, nachdem sie durch viele Jahrtausende im Sinnlichen gefangen lag, sich ihrer Erniedrigung bewusst wird, so ist ihr bereits die Erlösung nahe; denn ohne das Erwachen der erlösenden Kraft der Gotteserkenntnis hätte sie ihren Zustand der Erniedrigung nicht empfinden und einsehen können.

5) Unsterblich sind, die da Ruhe haben; denn sie werden Erben des Reiches der Erde sein.
Die Ruhe der Seele ist die Freiheit von allen Begierden und Leidenschaften. Nur in einer ruhigen Seele kann das Ebenbild Gottes in seiner Klarheit sich wiederspiegeln.

6) Unsterblich sind, die da nach gerechtem Wandel hungern und dürsten; denn ihr Verlangen soll gestillt werden.
Der gerechte Wandel besteht in der Erfüllung der Pflicht. Wer ernstlich danach verlangt, seine Pflicht zu erfüllen, der erfüllt sie auch nach dem Grade seiner Erkenntnis, und seine Erkenntnis wächst durch die Erfüllung der Pflicht.

7) Unsterblich sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Die wahre Barmherzigkeit entspringt aus der selbstlosen Liebe, welche die Erkenntnis der Einheit Gottes in allen Geschöpfen ist. Sie ist daher eine geistige Kraft, welche dem unsterblichen Menschen angehört, und wen sie erfüllt, dessen Seele ist unsterblich in ihr.

8) Unsterblich sind die welche reinen Herzens sind, denn sie werden das Höchste schauen.
Wer reinen Herzens ist, der ist frei von der Selbstsucht und „übermenschlich“. Er hat bereits die Klarheit der Seele, in welcher die Blume der Erkenntnis sich durch das Licht der Wahrheit entfaltet, wie die Lotusblume auf einem stillen Teich.

9) Unsterblich sind die Friedfertigen denn sie werden Kinder Gottes heißen.
Diejenigen Seelenkräfte, welche durch die Erkenntnis zur Ruhe gelangt sind, haben den Frieden und gehören dem unsterblichen Teile der
Menschennatur an. Die Zufriedenheit ist der Weg der Erkenntnis.

10) Unsterblich sind diejenigen, welche um der Gerechtigkeit willen verbannt wurden, denn ihre Heimat ist die Überwelt.
Verbannt sind diejenigen, welche, um der Menschheit zu helfen freiwillig zur Erde herniedersteigen und dort menschliche Gestalt annehmen (sich inkarnieren). Sie gehören nicht dieser Welt, sondern der Überwelt an.

11) Unsterblich seid ihr, wenn man euch schmähet und verbannet, und euch um meinetwillen fälschlich allerlei Böses nachredet.
Die Wahrheit wird stets auf Erden gekreuzigt und verbannt; aber gerade diese Verfolgung durch den Unverstand befestigt das höhere Selbstbewusstsein, d.h. das Vertrauen in Gott.

12) Freuet euch und frohlocket; denn groß wird euer Lohn sein in der Überwelt; denn so wurden die Propheten, die vor euch gewesen, verfolgt.
Die Belohnung besteht in der Vereinigung mit jenen hohen Geistern (Mahatmas), welche die Torheit der Welt überwunden haben und unter sich durch die Einheit des Zweckes, den sie verfolgen, verbunden sind. Wie die Sonne nicht dadurch berührt wird, dass einer ihrer Strahlen in eine Schmutzlache scheint, so ist auch der Geist nur wie ein unbeteiligter Zuschauer hoch über allem Materiellen erhaben.

13) Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz geschmacklos wird, womit wird man salzen? Es taugt zu nichts weiter, als das es weggeworfen und von den Leuten zertreten wird.
Das Salz der Erde ist das Licht der Weisheit in den höheren Seelenkräften, welches als die Intuition auch die niederen Verstandeskräfte durchdringt. Sucht sich der staubgeborene Verstand der in Bildern und Allegorien dargestellten ewigen Wahrheiten zu Bemächtigen und sie seiner eigenen Beschränktheit anzupassen, so wird das Hohe und Edle seine Schönheit und das Salz seinen Geschmack verlieren. Eine Wissenschaft ohne Geist ist eine Torheit, und eine bloß intellektuelle Religion, wo die Empfindung fehlt hat keinen Wert. Ein
Glaube der nur auf Berechnung beruht, ist ohne Leben.

14) Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf den Bergen liegt, kann nicht verborgen werden.
Die vom Lichte der Weisheit durchdrungenen oberen Seelenkräfte sind das Licht, welches die unteren Seelenkräfte erlechten, im Mikrokosmos sowohl als im Makrokosmos. Die göttliche Weisheit ist niemandem verborgen, der sich nicht vor ihr verbirgt. Wer aber seinen Blick nur auf die Erde richtet, der kann den Himmel nicht sehen.

15) Auch zündet man keine Lampe an, um sie unter einen Scheffel zu stellen, sondern um sie auf einen Ständer zu setzten, damit sie allen im Hause leuchtet.
Es genügt nicht, sich bewusst zu sein, dass man einen gewissen Grad von geistiger Erkenntnis besitzt, sondern der Wille und die Gedanken sollten vielmehr beständig auf das Göttliche gerichtet sein, damit der Funke zum Licht werde und die ganze Seele erleuchte.

16) So lasset auch euer Licht vor den Menschen scheinen, damit sie eure guten (magischen) Werke sehen, und die Herrlichkeit eures Vaters vermehren, der in der Überwelt ist.
Da der Mensch an sich selber, vom geistigen Standpunkte betrachtet, ein Nichts ist, so kann er auch aus eigenem Willen nichts Gutes hervorbringen, und nur dasjenige, was er in der in ihm offenbar gewordenen Kraft der Weisheit tut, ist gut. Diese Kraft aber ist das Eigentum seines „Vaters in der Überwelt“, d.h. des in ihm fleischgewordenen geistigen Ichs, dessen Repräsentant seine irdische Erscheinung ist, und was „Gott“ in uns und durch uns vollbringt, vermehrt seine eigene Kraft und Herrlichkeit.

17) Denket nicht, dass ich gekommen sei, um die Formen des Gesetzes oder die Inspiration (die Propheten) abzuschaffen. Ich bin nicht gekommen um zu zerstören, sondern um zu erfüllen.
Die Wahrheit wird durch die Form offenbar. Es handelt sich nicht darum die Form zu zerstören, sondern den Geist in derselben zu erkennen. Auch soll der Verstand nicht abgeschafft, sondern erleuchtet werden.

18) Amen! Denn ich sage euch: Bis dass das Firmament und die Erde vergehen, wird nicht ein Buchstabe oder ein Accent aus dem Gesetze verschwinden, bis alles geschieht.

Solange es Formen gibt, welche dem Gesetz des Karma unterworfen sind, wird das Gesetz des Karma wirken und neue Formen schaffen, wenn die alten untauglich geworden sind.

Dies sind einige der Lehren, welche der Geist der Wahrheit auf dem Berge des Glaubens verkündete. Andächtig lauschten die Jünger und Ben Pandira fand, dass alles, was die Wahrheit lehrte, eigentlich nichts Neues, sondern ganz selbstverständlich war und keine Beweise bedurfte, sobald man es richtig begriff. Dennoch können diese Lehren nicht oft genug wiederholt und dem Gedächtnisse eingeprägt werden; denn das vom Sinnlichen befangene Gemüt ist nur zu sehr geneigt, sie wieder zu vergessen oder sie nicht zu beachten. Auch hat die Erinnerung an dieselben erst dann einen wirklichen Wert, wenn diese Lehren befolgt und ihre Vorschriften ausgeübt werden. Darin allen besteht die praktische okkulte Wissenschaft, dass man die ewige Wahrheit, welche man im Innern des Herzens empfindet und erkennt, in sich selbst durch die Tat zur Verwirklichung bringt. Sie wird dann im Menschen zur lebendigen Kraft, welche der Seele als Nahrung dient. Wie ein Hungriger nicht dadurch gesättigt wird, dass er weiß, was auf dem Küchenzettel steht, so kann auch die Seele durch eine bloße Kenntnis der Theorie nicht erstarken.

Ohne die innerliche Aufnahme der Wahrheit ist alles bloße Wissen nicht weiter als Dunst.
Wer aber diese Lehre in sich aufgenommen und die Wahrheit dadurch in sich selber verwirklicht hat, der hat keine Instruktionen mehr nötig, nach denen er sich zu richten braucht, denn er richtet sich nach der Wahrheit selbst, welche zu seinem eigenen Wesen geworden ist und die Wahrheit selbst spricht sich in seinem Wollen, Denken und Sprechen und in seinen Handlungen aus. Nicht durch äußerliche Worte und von Menschen gemachte Verordnungen, sondern durch die Erkenntnis der Wahrheit selbst, welche in ihm zum Gesetze geworden ist, wird er belehrt, was er tun und was er lassen soll. Noch immer sitzt Jesus auf dem Berge des Glaubens und spricht zu jedem, der ihn hören will, die folgenden Worte : „Bildet euch nicht ein, dass euer eigenes Selbst etwas Besseres, als dasjenige anderer Menschen sei, sondern erkennt euch als Werkzeuge der der göttlichen Kraft in euch und schreibt alles Gute nicht euch selbst, sondern der Kraft des Guten zu, welche in euch offenbar wird; denn das Selbst gehört der Vergänglichkeit und die Selbstlosigkeit der Unsterblichkeit an, und wenn eure guten Taten nicht an Selbstlosigkeit diejenigen der Scheinheiligen und Pharisäer, welche im Selbstwahne zu handeln gewohnt sind, übertreffen, so werdet ihr nicht in das Reich der Überwelt eingehen.“

„Wer sein eigenes ewiges Wesen als eine Einheit in allen Geschöpfen erkennt, der wird kein lebendes Wesen töten; denn er weiß, dass, wer eine lebende Form zerstört, dadurch einen Teil der Offenbarung seines eigenen Geistlebens vernichtet. Auch wird er, wenn er sein eigenes wahres Selbst in den anderen erkennt, niemanden hassen, denn sein Hass fiele dabei auf ihn selbst zurück.“
„Wer eine Verpflichtung eingegangen ist, dem kann seine Schuld nicht vergeben werden, bis sie auf den letzten Heller bezahlt ist; denn sonst wäre die Gerechtigkeit nicht gerecht gegen sich selbst. Ist aber die Schuld bezahlt, so ist sie vergeben.“

„Wer eine Falschheit auch nur ansieht, um nach ihr zu gelüsten, der hat schon in seinem Herzen seine Verbindung mit der Wahrheit gebrochen; denn die Wahrheit wird nur von demjenigen erkannt, der sie von ganzem Herzen liebt. Nur das Wahre im Menschen kann die Wahrheit erkennen; der Schein huldigt dem Schein.“

Solche und ähnliche sind die Gesetze, welche die Wahrheit lehrt. Den „Christen“, d.h. denjenigen oberen Seelenkräften, welche vom Geiste der Wahrheit durchdrungen sind, sind diese Lehren von selber klar, aber den niederen Verstandeskräften, welche die Wahrheit nicht direkt erkennen, sondern auf Umwegen nach ihr suchen, müssen diese Lehren erst erklärt und auseinandergesetzt und ihre Wahrheit bewiesen werden. Die Wahrheit ist einfach und sie erkennt sich selbst, aber sie umfasst die ganze Welt, und ihre volle Erkenntnis erfordert die Erforschung aller ihrer Gesetzte auf allen Stufen des Daseins; weil das ganze Universum eine Offenbarung der ewigen Wirklichkeit ist.