Franz Hartmann – Herodias

Herodias

Franz Hartmann (1888)

Franz Hartmann„Die Wahrheit tut nicht so viel Gutes in Der Welt, als der falsche Schein der Wahrheit Übles anrichtet.“ (La Rochefoucauld)

Es gibt große Kinder in der Welt, welche, wenn man Ihnen ein Märchen erzählt, dasselbe als eine Erzählung einer äußerlichen Begebenheit betrachten, die sich tatsächlich im sinnlichen Leben zugetragen hat. Wenn man ihnen dann sagt, dass die Erzählung ein Märchen sei, und sich nicht buchstäblich so zugetragen habe, wie es erzählt wird, so halten sie das Ganze für eine Lüge; weil sie den darin verborgenen tiefen Sinn nicht erfassen können. Der Erwachsene aber, welcher zwischen der Bedeutung eines Märchens und dessen Einkleidung unterscheiden kann, erkennt die Wahrheit in der erdichteten Form und die Wahrheit leidet nicht darunter, dass die Phantasie ihre eine greifbare Form verleiht. Vielleicht gelingt es uns auch, eine ewige Wahrheit und sich ewig wiederholende Tatsachen in Form eines Märchens darzustellen: Es war einmal eine Universalsubstanz, welche den ganzen Weltenraum ausfüllte, und aus welcher alle Dinge gemacht waren, und die dennoch niemand kannte, weil sie unsichtbar war; denn obgleich sie alle möglichen Erscheinungen hervorbrachte, welche man sehen konnte, so sahen die Leute doch nur diese Erscheinungen, nicht aber sie Substanz selbst, welche ganz klar und durchsichtig war. Diese Substanz wurde auch „Weltkraft“ oder „Weltseele“ genannt und war von Leben, Empfindung und Bewusstsein durchdrungen, und infolge der Bewegung, welche in ihr stattfand, bildeten sich in ihr verschiedene Eigenschaften oder Daseinszustände, welche sich untereinander verbanden und Aggregate von solchen Kräften oder Eigenschaften oder Daseinszustände, darstellten, welche man Organismen oder Elementarwesen nannte. Die Kräfte, aus denen sich diese Verbindungen zusammensetzten, waren verschiedener Art; manche verhielten sich „gut“, andere „böse“; die hervorragendsten derselben waren die Weisheit, die Liebe, der Verstand, die Vernunft, Hoffnung, Glaube, Gerechtigkeit usw.; aber da waren auch andere, nicht weniger mächtige Kräfte, wie z.B. die Selbstsucht, der Eigendünkel, Hass, Neid, Bosheit, Begierde, Leidenschaft, Geiz, Furcht, Torheit, Unwissenheit u.s.w., und alle diese Eigenschaften wirkten aufeinander ein, verheirateten sich unter einander und erzeugten Kinder, so dass viele darunter eine sehr zahlreiche Verwandtschaft hatten. Indem diese Kräfte der Weltseele an gewissen Punkten aufeinander einwirkten, entstanden eine Menge von solchen unsichtbaren Organismen, von denen jeder eine kleine Welt darstellte, die sich schließlich verkörperte und sichtbar wurde, und es gab am Ende gerade so viele solcher kleiner Welten, als es in der großen Welt Menschen gibt; in der Tat wurden diese kleinen Welten, geradezu „Menschen“ genannt, und es waren in jeder derselben im kleinen dieselben Kräfte, wie in der großen zu finden, und dies Kräfte bekämpften sich darin gegenseitig; so dass bald die eine und bald die andere die Oberherrschaft gewann. Nun geschah aber in einer dieser Welten, wenn nicht in allen, etwas sehr Sonderbares. Indem nämlich alle diese Kräfte mit Empfindungen begabt waren, und sich gegen einen einzigen Mittelpunkt in ihrem Organismus bewegten, entstand in diesem Mittelpunkt die Empfindung und das Bewusstsein der Eigenheit; die kleine Welt bildete sich ein, etwas für sich Bestehendes und von der großen Weltseele Verschiedenes zu sein, weil sie nicht wusste, dass ihr ganzes Dasein nur von dem momentanen Zusammenwirken fortwährend wechselnder Natureigenschaften abhing, und aus diesem falschen Selbstgefühle entsprang der Wahn der Selbstheit, welcher wuchs und groß wurde, und schließlich die ganze kleine Welt als ein König beherrschte. Dieser König wurde von einigen „der Eigendünkel“, von anderen „Herodes“ genannt. Um die Zeit, in welcher sich diese Geschichte zutrug, herrschte der Eigendünkel in der von ihm ererbten Welt und hatte seinen Wohnsitz in der Hauptstadt des Reiches, welches gewöhnlich „das Gemüt“, mitunter aber auch „Jerusalem“ genannt wird. Seine rechtmäßige Frau war eine Prinzessin aus einem hohen Hause und bekannt unter dem Namen „die Selbstlosigkeit“. Sie war bescheiden und anspruchslos, aber gerade deshalb konnte sich der Eigendünkel, dessen Natur der Ihrigen geradezu entgegengesetzt war, nicht mit ihr vertragen. Er verstieß sie und nahm die Selbstliebe, welche unter dem Namen „Herodias“ bekannt und eine Tochter des Verlangens, eines Halbbruders des Königs war, in sein Haus auf. Verschiedene Eigenschaften, wie z.B. die Gerechtigkeit, die Tugend, die Weisheit, das Wohlwollen usw., rieten dem Eigendünkel ab, sich mit der Selbstliebe zu vereinigen; aber des Königs Schwester, die Begierde, riet ihm dazu und ihre Stimme entschied.  Unter denjenigen, welche dieser Verbindung am meisten entgegen waren, befand sich ein von Gott erleuchteter Mann, namens „Verstand“ welcher im ganzen Lande als ein Prophet galt und in der Geschichte unter dem Namen „Johannes der Täufer“ bekannt ist, weil er mit seinen Gedanken die tierischen Empfindungen taufte und sie dadurch zu menschlichen Empfindungen machte. Furchtlos und ohne Unterlass donnerte die Stimme des Verstandes an das Tor des Palastes, wo der Eigendünkel auf seinem Throne saß. Wie das Brüllen eines Löwen in der Wüste wurde seine Stimme vernommen, ihr Echo durchdrang das ganze Gemüt und störte die Selbstliebe in ihrer Behaglichkeit. Vergebens drohte der Prophet dem Könige, dass ihn Tod und Verderben treffen würden, sobald der Tag der Erkenntnis anbrechen würde. Zwar hatte Herodes große Furcht und ließ den Propheten fragen, durch welche Mittel die erzürnte Gottheit besänftigt werden könnte; als aber der Verstand antwortete, dass es dazu kein anderes Mittel gäbe, als das Verlassen der Selbstliebe, das ließ der Eigendünkel den Verstand durch die Begierde gefangen nehmen, wie es bereits oben beschrieben wurde, und sperrte ihn in den Kerker des Irrtums ein. Es war nicht seine Absicht, den Verstand gänzlich beiseite zu schaffen, da er dachte, sich seiner im Falle der Not zu bedienen, um sich bei ihm Rat zu erholen; aber die schöne Herodias hasste den Propheten, denn der Verstand war der Selbstliebe ein großes Hindernis, und sie suchte deshalb den König zu bereden, den Propheten ermorden zu lassen. Auch der König begann den Verstand zu hassen, umso mehr, als der Prophet ihm auch noch aus seinem Gefängnisse durch einen Boten, „das Gewissen“ genannt, Ermahnungen zukommen ließ. Dennoch wollte der Eigendünkel der Selbstliebe diesen Wunsch nicht erfüllen, um so mehr, als er wusste, dass der Verstand einflussreiche Verwandte hatte, und er befürchtete, dass seine Vernichtung eine große Unordnung und Empörung im ganzen Lande hervorrufen würde. Nun ersann die Selbstliebe einen Plan, um ihre Absicht zu erreichen. Sie hatte eine wunderbar schöne Tochter, genannt Salome, welche die personifizierte Leidenschaft darstellte, und dieser teilte sie ihre Absichten mit. Gerne ging die Leidenschaft auf die Wünsche der Selbstliebe ein, und es wurde beschlossen, den Plan an dem Hochzeitssage auszuführen, an welchem der Eigendünkel sich mit der Selbstliebe verband. Um nun unsere Erzählung anschaulicher zu machen, können wir getrost die darin beteiligten Eigenschaften als Personen auftreten lassen, ohne dass uns der verständige Leser der Lüge beschuldigen wird. Ist ja doch der Mensch selbst nichts anderes als ein Symbol derjenigen physischen, psychischen Kräfte, intellektuellen und geistigen Kräfte, welche er repräsentiert und die in ihm wirken, und von denen derjenige, welche in ihm am stärksten wirkt, ihn am meisten beherrscht. Keine von allen diesen Eigenschaften ist sein wahres und wirkliches Selbst; erst wenn er Gott findet, der über allen diesen Eigenschaften erhaben ist und auf deren Spiel wie ein unbeteiligter Zuschauer herunterblickt, erst in diesem über alles Dasein erhabenen Allbewusstsein, in welchem der Wahn des Getrenntseins vom Ganzen, die Idee der Eigenheit und des Sonderseins nicht vorhanden ist, findet die Seele das wahre göttliche Selbst. Dann erst, wenn der Mensch erkennt, dass die Summe von Eigenschaften, welche sein vergängliches Selbst darstellen, nicht ihm, sondern der Natur angehören, kann er erkennen, was das Wirkliche Unsterbliche in seinem eigenen Wesen ist. Wenn aber das Licht der Wahrheit verschwunden und der Verstand im Dunkeln ist, wenn die Begierde das Herz beherrscht und der Schein für die Wahrheit gehalten wird, dann hat die Torheit die Herrschaft über das Gemüt; die Leidenschaft kommt und mit ihr der Tod der Vernunft. So war es auch am Hofe des Königs Herodes. Eine lärmende Menge erfüllte die Hallen der Festung Makur. Stattliche Krieger in glänzenden Panzern, mit funkelnden Helmen, und schönen Frauen, in kostbare Gewänder gehüllt, mit Juwelen geschmückt, durchschritten die festlich bekränzten Säle; nubische und arabische Sklaven eilten geschäftig hin und her, um das Festmahl vorzubereiten, und alle Anstalten wurde getroffen, um den Geburtstag des Königs mit großem Glanze zu feiern, Ein großes Gelage mit Musik und Tanz sollte stattfinden und den König erfreuen. Unten im tiefsten Kerker aber schmachtete der Prophet und seine Stimme wurde nicht mehr gehört. Lasst uns einen Blick auf die Geschichte jener Zeit werfen, wir sie in später geschrieben Büchern beschrieben ist: Geradeso wie im Menschen die unvernünftigen tierischen Instinkte sich der Herrschaft der Vernunft nicht unterwerfen wollen, die Vernunft aber dennoch ihre Herrschaft behält, wenn sie von der Weisheit Unterstützung erhält, so war auch Herodes Antipas für die Juden, ein Gegenstand des Hasses und der Furcht, während er seinerseits dieselben verachtete und verhöhnte, denn er vertraute der Macht des römischen Heeres, und als Günstling des Kaisers lachte er über das Murren des unzufriedenen Volkes. Nur wenn einer oder der andere dieser unzufriedenen Geister, kecker oder ehrgeiziger als die anderen, ihm gegenüber trat und ihm lästig wurde, gab er ein Zeichnen, und der Lärmmacher bezahlte seine Voreiligkeit mit einem langsamen Tode am Kreuze, oder mit der milderen Strafe der Enthauptung durch das Schwert. Der Eigendünkel hatte so sehr von Herodes Besitz genommen  und war in ihm so groß und kräftig geworden, dass er zu einer Personifikation desselben geworden war und seine Anmaßungen gaben beständig Anlass zu Klagen, die aber selten laut wurden, da sie die Furcht beständig im Zaume hielt: denn gerade wie im Könige die Herrschsucht, so hatte sich auch in einem gewissen Teile seiner Untertanen die Furcht personifiziert, beherrschte dieselben und machte sie feige. Ähnliches trägt sich auch heutzutage nicht nur bei einzelnen Menschen, sondern bei ganzen Völkern zu und man kann daraus schließen, dass nicht die Menschen die Eigenschaften, welche sie besitzen, selber erzeugen, sondern dass diese allgemeinen Prinzipien den einzelnen Menschen und Völkern ihre individuellen und Nationaleigenschaften erteilen, indem sie von denselben Besitz nehmen und in ihnen ihre Kräfte entfalten. Wäre der persönliche Mensch für seine Eigenschaften verantwortlich, oder könnte er sie nach Belieben erzeugen, so wäre, so wäre es unbegreiflich, dass gewisse Eigenschaften sich unter gewissen Nationen ausbreiten und offenbar werden, unter anderen aber nicht; aber wir wissen aus Erfahrung, dass niemand sich aus eigener Kraft gut, weise, tugendhaft usw. machen kann; er kann höchstens danach streben, dass Güte, Weisheit, Tugendhaftigkeit usw. sich in ihm entwickeln und durch ihn offenbar werden können. Die Persönlichkeit der Menschen sind, wie Spiegelbilder, im Wasser vergängliche Erscheinungen, aber die Kräfte, welche sich in ihnen verkörpert darstellen, sterben nicht. Was kümmert uns deshalb die Geschichte des nun toten Herodes? Haben wir doch den Eigendünkel, dessen Verkörperung er darstellte, noch stets unter uns! Vielleicht aber würde es dazu helfen, unseren eigenen Eigendünkel los zu werden und uns veranlassen, andere milder zu beurteilen, als es gewöhnlich geschieht, wenn wir uns daran gewöhnen könnten, anstatt die Persönlichkeit des Menschen als ein für sich selbst bestehendes Wesen zu betrachten, welches groß, weise, tugendhaft usw. oder auch eitel, dumm, bösartig u. dgl. ist, sie als dasjenige zu erkennen, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich eine veränderliche Zusammensetzung von Kräften in denen die Eigenschaften des Daseins dargestellt und offenbart sind. Von diesem Standpunkte aus betrachtet, verschwindet das sterbliche „Ich“ in seinem Nichts, und der Blick richtet sich nach dem großen unendlichen Ich, welches unsterblich, unermesslich, ohne Anfang und ohne Ende, das wahre Wesen und Selbst aller Geschöpfe ist. Von alledem wusste Herodes nichts; seine Augen waren nur auf die Selbstliebe gerichtet und diese brachte ihn schließlich um den Verstand; wie es ja auch schon vielen anderen gegangen ist, wenn sie auch keine Könige von Jerusalem waren. Das festliche Mahl fand in einer der Säle des Schlosses statt, dessen Eingang mit kostbaren Teppichen verhängt war. Die Gäste waren im Kreise gelagert und in der Mitte befand sich der Thron des Königs und der Herodias. Alles, was die Sinne erfreuen konnte, war aufs Geschmackvollste hergerichtet, die Tische waren mit köstlichen Spesen und feurigen Weinen besetzt und alles schwelgte in Freuden und Herrlichkeit. Allerlei Spiele ergötzten die Anwesenden, aber das Beste war für die Mitternachtsstunde angesetzt. Als diese Stunde nahte, erschien eine Anzahl von ausgewählten Schönheiten, gewandte Tänzerinnen aus Arabien. Die Art Ihrer Kleidung Diente eher dazu, ihre Reize hervorzuheben, als sie zu verhüllen, und der Tanz, den sie aufführten, regte die Sinne des halbtrunkenen Königs aufs äußerste auf. Da, mitten im Tanze, öffneten sich die Vorhänge und Salome wirbelte in den Saal. Wie der Mond die Sterne an Glanz übertrifft, so übertraf Salomes Schönheit die der übrigen Tänzerinnen. Ihre fehlerlose Gestalt war in ein loses Gewand gehüllt, das sie wie ein durchsichtiger Nebel umfing, und indem sie sich in anmutigen Schwingungen drehte, löste sich ein Schleier nach dem anderen von ihrer Form, bis sie schließlich in nackter Schönheit vor dem Tetrachen stand, die Hände über die wogende Brust gefaltet. Ein stürmischer Applaus aller Anwesenden folgte, und Herodes gab seinem Beifall kund.

„Ein königlicher Genuss!“ stotterte der berauschte Herrscher,

„Und einer königlichen Belohnung wert“, fügte Herodias hinzu.

Dies erregte die Eitelkeit des Königs und er sprach zu Salome: „Fordere, welche Belohnung du willst und ich will dir sie geben.“

Hierauf sprach Salome mit lauter Stimme, und hielt ihren feurigen Blick fest auf Herodes gerichtet:“ Gib mir das Haupt des Propheten?“

Für einen Augenblick starrte der König sie in Angst und Überraschung an. Er sah, dass er überlistet war, aber sein Stolz ließ es nicht zu, das so töricht gegebene Versprechen zurückzunehmen. Dann, als ob er sich seiner Zögerung schämte, antwortete er mit einem erzwungenen Lachen und sandte seine Diener, um Salomes Wunsch zu erfüllen. So kam der Eigendünkel um seinen Verstand.