Buch 17

Das siebzehnte Buch – An Tatium. Von der Wahrheit.

Titelblatt der ersten Ausgabe in Deutsch, Hamburg 1706Hermes
1. Es ist nicht möglich, o Tati!, dass ein Mensch ein unvollkommenes, aus vielen unvollkommenen Gliedern zusammengesetztes Tier, und aus fremden und vielen Leibern bestehendes Gefäß, frei von der Wahrheitsrede; dass aber was möglich oder recht ist, das sage ich, dass es die Wahrheit allein in ewigen Leibern sei, deren Leiber auch selbst wahrhaftig sind.

2. Das Feuer ist durch sich allein Feuer und durch nichts anders; die Erde ist durch sich allein Erde und durch nichts anders; die Luft ist durch sich allein Luft und durch nichts anders; das Wasser ist durch sich allein Wasser und durch nichts anders.

3. Unsere Leiber aber sind aus diesen allen zusammen gesetzt, denn sie haben von dem Feuer, sie haben von der Erde und haben von dem Wasser und der Luft, und sind dennoch weder Feuer, weder Erde, weder Wasser, weder Luft noch etwas Wahrhaftiges, wenn aber unsere Zusammenstellung die Wahrheit von Anfang nicht in sich gehabt hätte, wie könnten sie denn sehen, sprechen oder nur verstehen, wenn es Gott nicht wollte? Deshalb, o Tati! Alles, was auf der Erde ist, ist zwar keine Wahrheit, sondern eine Nachahmung der Wahrheit, und zwar nicht alle davon, sondern nur einige wenige.

4. Es ist aber, o Tati!, ein anders um die Falschheit und Irrtum und die Meinungen der Einbildungen, welche als Bilder dargestellt sind; wenn aber die Einbildung einen Einfluss von oben herab hat, so ist sie eine Nachahmung der Wahrheit, aber ohne die obere Wirkung bleibt sie nur eine Lüge.

5. Wie denn auch ein Bild zwar einen Abbildungsleib vorstellt, selbst aber ist es kein Leib, nach der Einbildung der gesehenen Sache, man sieht auch, dass es Augen hat, es sieht aber nichts, und Ohren, es höret aber nichts im geringsten, und alles andere hat die Abbildung, sie ist aber falsch, und betrügt der Anschauenden Gesicht, indem sie meinen, sie sehen was Wahrhaftiges an, da es doch in der Tat was Falsches ist.

6. Deshalb die nichts Falsches sehen, die sehen die Wahrheit, wenn wir deshalb ein jedes von diesen so verstehen oder sehen, wie sie sind, so sehen und verstehen wir das Wahrhaftige.

7. Wir werden aber ohne das Wesen nichts Wahres verstehen noch wissen.

Tatius
8. Ist denn, o Vater, die Wahrheit auch in der Erde?

Hermes
9. Du fragst nicht unvernünftig, o Sohn! Die Wahrheit ist keineswegs von der Erde, o Tati!, kann auch nicht geboren werden, es kann aber geschehen, dass etliche Menschen, welchen Gott die Macht, Gott zu sehen, gibt, die Wahrheit mit dem Gemüte, greifen können.

10. Solcher Weise ist nichts Wahres auf der Erde, dem Gemüte und Vernunft, sondern es seien alles Einbildungen und Meinungen, dem wahren Gemüte und der Vernunft.

Tatius
11. Soll ich denn das nicht Wahrheit nennen, wenn ich was wahrhaftig verstehe und nenne? Wie soll ich die Wesen verstehen und aussprechen, wenn nichts wahr auf der Erde ist, wie kann denn das Wahrheit sein, dass man nichts wahrhaftig kennt?

Hermes
12. Wie könnte das geschehen, o Sohn!, denn die Wahrheit ist die vollkommenste Tugend, das höchste Gut selbst, welches von der Materie nicht gestört wird, noch von dem Leibe umgeben, bloß, klar, unveränderlich, herrlich und unveränderliches Gut, die Dinge aber, die hier sind, o Sohn!, kann man sehen, dass sie unfähig sein dieses Guten, dass sie verderblich, der Leidenschaft unterworfen, auflöslich, veränderlich, allezeit verwandelt und andere aus andern geboren werden.

13. Welche deshalb gegen und in sich selbst nicht wahr sind, wie können die wahr sein?

14. Denn alles, was verwandelt wird, ist falsch, weil es nicht bleibt in dem, darin es ist, und stellt sich unter Einbildungen immer anders und anders für.

Tatius
15. So ist der Mensch nicht wahrhaftig, o Vater?

Hermes
16. Als Mensch ist er nicht wahrhaftig, o Sohn!, denn das ist wahrhaftig, was seine Zusammenstehung aus sich selbst hat, und bleibt durch sich, wie es ist.

17. Der Mensch aber besteht aus Vielem, und bleibt nicht durch sich, denn er wird verändert, und ändert ein Alter mit dem andern Alter, die Bildung mit der andern Bildung, und dieses zwar, weil er noch in seinem Gefäße ist, und viele haben ihre Kinder nach wenig dazwischen gekommener Zeit nicht gekannt, und ebenso die Kinder ihre Eltern.

18. Was demnach so verändert wird, dass es nicht mehr gekannt werden kann, dass es wahrhaftig sei, o Tatius, ist das nicht im Gegenteil Falschheit, indem es unterschiedliche Einbildungen der Veränderung annimmt?

19. Du aber verstehst wohl, was da wahrhaftig sei, nämlich was da bleiblich und ewig, der Mensch aber nicht allzeit, daher ist er nicht das Wahrhaftige.

20. Es ist zwar der Mensch eine Idee oder Einbildung; aber diese Einbildung ist die höchste Falschheit.

Tatius
21. Sind denn nicht die ewigen Leiber, o Vater, die da verändert werden, wahrhaftig? So ist denn alles das Geborene und Veränderliche nicht wahrhaftig?

Hermes
22. Als von einem wahrhaftigen Urvater gemacht, können sie eine wahrhaftige Materie gehabt haben, sie haben aber etwas Falsches in der Veränderung; denn nichts ist wahr, das nicht in sich selbst bleibt.

Tatius
23. Aber, o Vater, soll man denn die einzige Sonne, welche vor andern nicht verändert wird, und in sich bleibt, eine Wahrheit nennen?

Hermes
24. Ja, eine Wahrheit; und daher ist die Werkmeisterschaft in der Welt dieser allein anvertraut, sie herrscht über alles, und macht alles, welche ich auch verehre, und ihrer Wahrheit Ehrerbietung zeige und nach dem einen und ersten Wesen sie als einen Werkmeister erkenne.

Tatius
25. Was sagst du aber, o Vater, welches die erste Wahrheit sei?

Hermes
26. Der Eine und Einzige, o Tatius, der aus keiner Materie ist, der in keinem Leibe ist, der keine Farbe hat, der keine Gestalt hat, der nicht verwandelt wird, der nicht verändert wird, der allezeit ist.

27. Die Lüge aber, o Sohn, verdirbt, alles Irdische hat die Verderbung ergriffen und umgeben, und wird sie auch künftig umgeben, weil es die Wahrheit also versehen hat; denn ohne Verderbung kann keine Geburt bestehen, denn auf alle Geburt folgt die Verderbung, wenn es wieder werden soll, denn was da geboren wird, muss notwendig aus Verdorbenem geboren werden, und es ist eine Notwendigkeit, dass dasjenige, was geboren ist, wieder verderbe, auf dass da die Geburt der Wesen nicht aufhöre; darum erkenne den für den ersten Werkmeister, der die Geburten der Wesen hervorgebracht.

28. Was aber aus der Verderbung wird, das ist falsch oder lügenhaft, weil es immerfort andere Dinge hervorbringt, denn es ist unmöglich, dass eben dieselben Dinge wieder sollen hervorkommen, ist es nun nicht das selbige Ding, wie kann das wahr sein? Darum muss man solches, o Sohn, Einbildungen nennen; daher nennen wir recht den Menschen die Einbildung der Menschheit, ein Kind die Einbildung der Kindheit, einen Mann die Einbildung der Mannheit, einen Alten die Einbildung des Alters, einen Jüngling die Einbildung der Jünglingschaft; denn es ist kein Mensch Mensch, kein Kind Kind, kein Jüngling Jüngling, kein Mann Mann, kein Alter Alter, sondern wenn sie verändert sind, so stellen sie oder lügen einem vor sowohl das, was sie zuvor gewesen sind, als was sie gegenwärtig sind.

29. Gedenke aber, o Sohn, hierüber also, dass diese Unwahrheiten Wirkungen sind, die von oben herab von der Wahrheit selbst kommen.

30. Nachdem sich dieses so verhält, so sage ich, dass diese Unwahrheit ein Werk der Wahrheit sei.

ENDE