Gottfried Willhelm Leibniz – Über die Vervollkommnung der ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz

Über die Vervollkommnung der ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz

Gottfried Willhelm Leibniz (1740)

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Ich finde, dass die meisten, welche sich zu den Lehren der Mathematik hingezogen fühlen, eine Abneigung gegen die Metaphysik hegen, weil sie bei jenem Licht, bei dieser dagegen Dunkelheit wahrnehmen.

Der Hauptgrund für diese Erscheinung ist meines Erachtens der, dass die allgemeinen Begriffe, die von allen für am meisten bekannt angesehen werden, infolge der Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit der Menschen im Denken zweideutig und unklar gemacht worden und, dass die davon gegebenen Definitionen nicht einmal Nominaldefinitionen sind und daher nichts erklären. Dies Übel hat sich unzweifelhaft auch in die übrigen Wissenschaften eingeschlichen, die jener ersten und aufbauenden untergeordnet sind. Daher haben wir statt klarer Definitionen kleinliche Unterscheidungen, statt wahrhaft umfassender Axiome topische Regeln, die häufiger durch Gegengründe entkräftet als durch Beispiele bestätigt werden. Und dennoch wenden die Menschen die metaphysischen Ausdrücke infolge einer gewissen Notwendigkeit allenthalben an und schmeicheln sich mit dem Glauben, das zu verstehen, was sie auszusprechen gelernt haben.

In Wahrheit aber sind offenbar die wahren und ergiebigen Begriffe nicht bloß der Substanz, sondern auch der Ursache, der Tätigkeit, der Beziehung, der Ähnlichkeit und vieler anderer allgemeiner Ausdrücke gewöhnlich unbekannt. Daher darf es denn niemand wundernehmen, dass jene Hauptwissenschaft, die unter dem Namen der ersten Philosophie auftritt und von Aristoteles die ersehnte oder gesuchte (ξητουμένη) genannt ward, noch heute zu den gesuchten gehört. Allerdings sucht Platon in seinen Dialogen aller Arten den Inhalt der Begriffe auf, und das Nämliche tut Aristoteles in der sogenannten Metaphysik, viel aber scheint das nicht genützt zu haben.

Die späten Platoniker verfielen darauf, seltsame Erdichtungen vorzutragen, und den Aristotelikern, namentlich den Scholastikern, lag mehr daran, Fragen aufzuwerfen, als sie zu lösen.

In der Neuzeit haben zwar etliche ausgezeichnete Männer ihre Gedanken auch auf die erste Philosophie gerichtet, aber bis jetzt ohne sonderlichen Erfolg. Dass Descartes manches Vortreffliche vorgebracht, durch Ablenkung des Geistes vom Sinnlichen, besonders das Studium Platons in gehöriger Weise wieder ins Leben gerufen und sodann mit Nutzen vom Zweifel der Akademie Gebrauch gemacht hat, kann allerdings nicht bestritten werden. Allein infolge einer gewissen Unbeständigkeit oder einer Willkür im Behaupten ist er bald vom Ziele abgewichen, hat das Gewisse nicht vom Ungewissen unterschieden und daher die Natur der körperlichen Substanz verkehrterweise in die Ausdehnung gesetzt, auch von der Verbindung zwischen Seele und Körper keine richtigen Begriffe gehabt. Die Ursache von alledem war, dass er das Wesen der Substanz im Ganzen genommen nicht erfasst hatte, denn er war sprungweise zur Lösung der schwierigsten Fragen vorgeschritten, ohne die darin enthaltenen Begriffe klargelegt zu haben.

Wie sehr daher seine metaphysischen Betrachtungen der Gewissheit entbehren, erhellt aus nichts mehr als aus der Schrift, in der er dieselben auf Anraten Mersennes und anderer vergeblich in ein mathematisches Gewand zu kleiden versucht hat. Auch andere, durch Scharfsinn ausgezeichnete Männer, haben sich mit der Metaphysik befasst und einiges tief erwogen, es aber so in Dunkelheiten eingehüllt, dass sie mehr zu weissagen als zu beweisen scheinen.

Mir scheint nun aber gerade in der Metaphysik mehr Klarheit und Gewissheit nötig zu sein als in der Mathematik, weil die mathematischen Dinge ihre Proben und Beweise in sich tragen, was die Hauptursache ihres Erfolges ist, während man in der Metaphysik dieses Vorteils entbehrt. Daher ist bei dieser ein ganz besonderes Verfahren beim Aufstellen der Sätze und gleichsam ein Faden im Labyrinthe nötig, mit dessen Hilfe die Fragen, nicht weniger als bei der Methode des Euklid, völlig rechnungsmäßig gelöst werden, wobei indessen die Klarheit in acht genommen werden muss, die den landläufigen Redensarten keine Zugeständnisse macht.

Von welcher Wichtigkeit aber dies alles ist, erhellt aus dem Begriff der Substanz, wie ich ihn aufstelle, der so ergiebig ist, dass sich daraus die obersten Wahrheiten ergeben, auch in betreff Gottes und der Seelen, wie der Natur der Körper, Wahrheiten, die zum Teil bekannt, doch wenig bewiesen, zum Teil aber bis jetzt unbekannt sind, wennschon sie für die übrigen Wissenschaften von dem größten Nutzen sein werden. Um eine Probe davon zu geben, will ich vorderhand nur sagen, dass der Begriff der Kraft oder der virtus (welche die Deutschen Kraft, die Franzosen la force nennen), zu dessen Erklärung ich die besondere Wissenschaft der Dynamik bestimmt habe, sehr viel zur Erkenntnis des wahren Begriffs der Substanz beiträgt.

Die tätige Kraft ist nämlich verschieden von der in den Schulen behandelten bloßen Macht, weil die tätige Macht der Scholastiker oder das Vermögen nichts anderes ist als die nahe Möglichkeit des Handelns, die jedoch einer Anregung von außen und gleichsam eines Stachels bedarf, um in die Wirklichkeit übergeführt zu werden. Die tätige Kraft dagegen enthält eine gewisse Wirksamkeit oder ἐντελέχειαν, die ein Mittleres zwischen dem Vermögen zu handeln und dem Handeln selbst ist und ein Streben einschließt, so dass sie durch sich selbst in Wirksamkeit übergeht, ohne eine andere Hilfe als die Wegräumung des Hemmnisses zu erfordern.

Das Beispiel eines durch Beschwerung mit einer Last angespannten Seils oder eines gespannten Bogens kann dies veranschaulichen. Denn wenn auch die Schwere und die Elastizität mechanisch erklärt werden können und aus der Bewegung des Äthers erklärt werden müssen, so ist doch der letzte Grund für die Bewegung im Stoffe die demselben bei der Schöpfung eingepflanzte Kraft, die jedem Körper innewohnt, aber durch das Aneinanderprallen der Körper in der Natur mannigfach begrenzt und beschränkt wird. Diese Kraft zu handeln aber, behaupte ich, wohnt jeder Substanz inne, und immer geht aus ihr eine gewisse Wirksamkeit hervor. Daher kann keine körperliche Substanz (so wenig wie eine geistige) je zu wirken aufhören, was diejenigen nicht genügsam erkannt zu haben scheinen, die das Wesen der körperlichen Substanz bloß in die Ausdehnung oder auch in die Undurchdringlichkeit gesetzt und den Körper als ein in jeder Hinsicht Untätiges aufgefasst haben.

Aus meinen Untersuchungen wird sich auch ergeben, dass keine erschaffene Substanz von einer anderen geschaffenen Substanz die Kraft zu handeln an sich, sondern nur die Begrenzung und Bestimmung ihres schon vorher in ihr bestehenden Strebens oder ihres Vermögens zu handeln empfängt, wobei ich noch anderes übergehe, was zur Lösung des schwierigen Problems von der wechselseitigen Einwirkung der Substanzen aufeinander von Nutzen sein wird.