Tao Te King 40-81

Tao Te King

Lao Tse

Absatz 40-81

40. Der Kreislauf des Werdens

347. Was sich aus dem Urgrund erhebt, kehrt in den Urgrund zurück.

348. Gelassen wirkt das Unergründliche.

349. Aus dem Allgrund des Seins wallen die Wesen zum Leben.

350. Aus dem Allgrund des Nichtseins erhebt sich das Sein.


41. Das Erfülltsein alles Seienden vom Unergründlichen

351. Der wirkliche Weise, das Unergründliche erkennend, sucht es zu verwirklichen.

352. Der in seinem Streben nach Weisheit noch Schwankende folgt ihm nur dann und wann.

353. Der nur von Weisheit Redende nimmt es nicht ernst. Erschiene es ihm nicht töricht, wäre es nicht das Letzte. Daher sagte einst ein Dichter:

354. Der vom inneren Lichte Erleuchtete erscheint im Licht der Welt dunkel.

355. Der innerlich Fortschreitende erscheint rückschrittlich.

356. Der innerlich Ausgeglichene erscheint unbrauchbar.

357. Wer seinem höchsten Selbst vertraut, geht nach der Welt Meinung zugrunde.

358. Wer rein bleibt, gilt als einfältig und dumm.

359. Wer kraft seines Selbstes duldsam alles zu verstehen sich bemüht, gilt als charakterlos.

360. Wer kraftvoll in seinem Selbst wurzelt, gilt als Eigenbrödler.

361. Wer aus seinem Herzen lebt, gilt als unberechenbar.

362. Das Unergründliche gleicht: einem unendlichen Viereck ohne Ecken,

363. einem Gefäß von unendlicher Größe, das nichts fasst,

364. einem Laut von unendlichen Schwingungen, den man nicht hört,

365. einem Bild von unendlicher Größe, das nicht erschaut werden kann.

366. Wenn auch das Unergründliche nicht zu erkennen und nicht zu benennen ist, es erfüllt, wirkt und vollendet doch alles.


42. Die Selbstentfaltung des Seins

367. Aus dem Unergründlichen erquoll das Eine.

368. Aus dem Einen ward das Zweite.

369. Aus dem Zweiten ward das Dritte.

370. Das Dritte erzeugte das Viele.

371. Alles Lebendige geht aus dem Dunklen hervor und strebt nach dem Licht.

372. Des Lebens Wesenheit bewirkt den steten Einklang beider Kräfte.

373. Kein Mensch will einsam, verlassen und gering sein; Fürsten und Könige aber bezeichnen sich gern so; denn sie wissen um das Geheimnis, dass das, was nichts gilt, erhoben wird, dass das, was gilt, zerfällt.

374. Also lehre ich auch, was schon die andern lehrten: Immer stirbt, bevor er stirbt, wer eigenwillig handelt.

375. Das ist der Ausgangspunkt meiner Lehre.


43. Von der Wirksamkeit des Unscheinbaren

376. Das Allerweichste überwindet das Härteste auf Erden.

377. Das Leere durchdringt selbst das Dichteste.

378. Darin offenbart sich die hohe Wirksamkeit des Nichtwirkens.

379. Freilich: Wenige in der Welt wissen um das Geheimnis schweigender Belehrung und nichtwirkenwollenden Wirkens.


44. Selbstbegrenzung wirkt Beständigkeit

380. Was bedeutet mir mehr: der Familienname oder mein Wesen?

381. Was ist mir näher: mein innerstes Selbst oder der äußere Besitz?

382. Was bringt mir mehr Pein: Gewinn oder Verlust?

383. Wer sein Herz an etwas hängt, über den kommt das Verhängnis.

384. Wer nach Schätzen strebt, der wird sich verschätzen.

385. Wer zufrieden bleibt, mit dem wird man zufrieden sein.

386. Wer seine Grenzen beachtet, kommt nicht in Gefahr.

387. Dies führt zu wahrer innerer und äußerer Beständigkeit.


45. Vom Zielwillen des Lebens und vom Richtmaaß der Welt

388. Was sich vollendet, erscheint oft wie unvollkommen, und doch wirkt seine verborgene Zielkraft unaufhörlich.

389. Was wirkliche Fülle besitzt, scheint sich stets zu verströmen, und doch bleibt es unerschöpflich.

390. Das Gerade erscheint oft wie krumm,

391. große Geschicklichkeit wie Ungeschick,

392. wirkliche Kunst wie ein Stammeln.

393. Bewegung überwindet die Kälte, Stille die Hitze.

394. Immer bleibt das Reine und Echte Richtmaaß der Welt.


46. Genügsamkeit erhält den Frieden

395. Lebt die Gemeinschaft in Ordnung, ziehen die Roße den Pflug.

396. Verliert sie ihr inneres Gesetz, stehen sie zum Kriege bereit.

397. Größere Sünde gibt’s nimmer als Billigung zuchtloser Gier.

398. Größeres Übel gibt’s nimmer als niemals sich lassen genügen.

399. Größeres Unheil gibt’s nimmer als Ehrsucht und Drang nach Erfolg.

400. Nur wer sich zufrieden gibt, hat dauernden Frieden im Land.


47. Der Weg zur Menschen- und Welterkenntnis

401. Um die Welt zu erkennen, brauch’ ich nicht in sie zu gehen.

402. Das Geheimnis der Welt kann ich erschauen, ohne aus dem Fenster zu sehen.

403. Je weiter einer in die Ferne schweift, um so geringer wird sein Erkennen.

404. Der Weise kommt zu seiner Erkenntnis ohne Wissensdrang;

405. er kommt an Sein Ziel ohne Anstrengung;

406. er vollendet seinen Weg mühelos.


48. Nichtwirkenwollen fördert die Gemeinschaft

407. Wissen drängt täglich nach größerem Wissen.

408. Wer dem Unergründlichen gehorsam ist, wird täglich bescheidener.

409. Er gelangt zum Nichtwollen und endet im Nichtwirken.

410. Im selbstlosen Gehorsam bleibt nichts ungetan.

411. So wächst auch ein Reich aus sich selber heraus; eigenwillige Umtriebe aber zerstören es.


49. Vom Leben im Herzen der Welt

412. Der Weise hat kein selbstsüchtiges Herz, unvoreingenommen nimmt er die Herzen der anderen in sich auf.

413. Er ist gut zu den Guten und gut zu den Nichtguten; denn sein innerstes Wesen lässt ihn nur gütig sein.

414. Er ist ehrlich zu den Ehrlichen und ehrlich zu den Nichtehrlichen; denn sein innerstes Wesen lässt ihn nur ehrlich sein.

415. Er lebt zwar zurückgezogen, doch er bleibt weltweit dem Leben geöffnet.

416. Der Menschen Augen und Ohren mögen verwundert auf ihn gerichtet sein,- er sieht in allen nur seine Kinder.


50. Erkenntnis der Lebensgesetze gibt Furchtlosigkeit

417. Ausgang aus dem Nichtseienden in das Seiende ist Geburt; Heimkehr in das Nichtseiende ist Tod.

418. Drei von zehn suchen ihre Seligkeit im Leben,

419. drei von zehn suchen sie im Sterben,

420. drei von zehn klammern sich an die Freuden des Lebens und geben sich gerade dadurch dem Tod in die Hand.

421. Warum ist es so?

422. Weil jeder auf seine Weise des Lebens Erfüllung sucht.

423. Ich aber hörte, dass der Weise, um das wirkliche Geheimnis des Lebens wissend, auf seiner Wanderschaft nicht Nashorn noch Tiger fürchtet, und durch kämpfende Heere ohne Waffen und Rüstung schreitet.

424. Das Nashorn fände keinen Angriffspunkt für sein Horn, der Tiger keinen für seine Tatzen, die Feinde keinen für ihre Schwerter.

425. Warum? Weil er unantastbar ist, weil es für ihn keinen Tod gibt.


51. Die Wirkungskraft innerlich kraftvollen Lebens

426. Aus dem Unergründlichen steigt das Leben auf,

427. erhalten wird es durch die Urkraft des Lebens,

428. offenbar wird es durch das Leibhafte,

429. vollendet durch den Zielwillen des Lebens.

430. Daher verehren die Lebenden das Unergründliche, nicht, weil es die Pflicht geböte, sondern weil es ihr Inneres so will.

431. Denn das Unergründliche gibt allem das Leben:
es lässt im Frühling alles werden und wachsen, ernährt und erhält es im Sommer, lässt es im Herbst reifen und vollenden, schützt es im Winter.

432. Erzeugen, ohne etwas dafür haben zu wollen, dem Leben zu dienen, ohne etwas zu erwarten, es zu fördern, ohne es beherrschen zu wollen: Das ist das Geheimnis innerlich kraftvollen Lebens.


52. Von der Kraft schweigenden Lebens

433. Das Unergründliche ist der Mutterschoß der Welt.

434. Wer seine Mutter erkennt, weiß um seine Kindschaft;

435. wer sich als Kind erkannt, lebt der Mutter Leben;

436. er sieht in seinem Untergang einmal keine Gefahr.

437. Wer verhaltener Sinne bleibt und seine Kräfte wahrt, der erschöpft sich nicht.

438. Wer sich aber ausgibt und sich umtriebig in alles mischt, der lebt vergeblich.

439. Wer sich bewusst ist, nur ein Fünkchen zu Sein, der ist erleuchtet.

440. Wer als Werdender weich und schmiegsam bleibt, der ist stark.

441. Wer so erleuchtet in des Lichtes Ursprung zurückkehrt, den trifft kein Untergang.

442. Unsterblich ist, wer im Wesen west und an keiner Gestalt haftet.


53. Echte Bildung kennt kein eigensüchtiges Wirken

443. Wahre Bildung ist Herzensgehorsam dem Unergründlichen gegenüber.

444. Nichts fürchte ich mehr als Betriebsamkeit.

445. Ins Unergründliche führt unmittelbar der innere Weg; doch die Menschen lieben ihre Eigenpfade:

446. Eigensucht ist es, wenn die Herrscher in glänzenden Schlössern leben, während die Felder der Bauern verwüstet sind, und die Scheunen leer bleiben.

447. Eigensucht ist es, mit Kleidern zu protzen, mit Schmuck zu prunken,

448. mit Waffen zu prangen, bei Essen und Trinken zu prassen

449. und Schätze zu horten.

450. Diebstahl ist alles, was auf Kosten anderer geht; es ist nicht im Sinn der letzten Wirklichkeit.


54. Das Ordnungsgefüge der Lebensgemeinschaften

451. Was gut verwurzelt ist, wird nicht entwurzelt,

452. Was gut geführt wird, wird nicht verführt.

453. Was in der Kinder und Enkel Gedächtnis lebt, wird nicht untergehen.

454. Wer dem wirkenden Selbst in sich gehorcht, der lebt echt.

455. Wer es in der Familie beachtet, dem wird des Lebens Fülle.

456. Wer es in der Gemeinde beachtet, lernt Beständigkeit.

457. Wer es im Volk beachtet, erkennt, dass es auf die innere Mächtigkeit ankommt.

458. Wer es in der Menschheit beachtet, findet es als das Allumfassende.

Darum:

459. Nach Deiner eigenen Reife erkenne die andern.

460. Nach der Reife Deiner Familie miss die andern Familien.

461. Deine Gemeinde sei der Maßstab für die andern Gemeinden.

462. An Deinem Volk miss die andern Völker.

463. Nach Deiner Menschlichkeit beurteile die Menschheit.

464. Wodurch erkenne ich dieses Ordnungsgesetz in der Welt?

465. Durch es selber.


55. Das Kind-Vorbild der Selbstordnung des Lebens

466. Wer aus seines Ursprungs Fülle lebt, der gleicht dem neugeborenen Kinde.

467. Giftige Nattern beißen es nicht, wildes Getier zerreißt es nicht, Raubvogel-Fänge erstoßen es nicht.

468. Weich sind noch seine Knochen und die Muskeln zart, doch schon fest ist sein Griff.

469. Es ist sich der Geschlechter noch nicht bewusst und hat doch Geschlecht, und seines Geschlechtes Keimkräfte ruhen in ihm.

470. Es kann den ganzen Tag schreien und wird doch nicht heiser: Vollendeter Einklang!

471. Die zum Einklang drängende Kraft des Lebens erkennen, heißt: Sein Unvergängliches finden; dieses finden, heißt: erleuchtet sein.

472. Sich so von der Ganzheit des Lebens durchdringen lassen, das gibt Segen.

473. Eigenwillig aber seines Lebens Kräfte zur Erhöhung des Genusses zu verwenden, scheint zwar von Stärke zu zeugen; ist aber Täuschung.

474. Alles eigenwillige Handeln ist widersinnig.

475. Was nicht echt ist, das zerfällt.


56. Die stillordnende Kraft des Weisen

476. Wer erkennt, schweigt. Wer schwätzt, erkennt nicht.

477. Der Weise schweigt. Er kehrt sich nach innen.

478. Er mildert das Scharfe, klärt das Wirre, dämpft das Grelle, macht sich eins mit dem Unscheinbaren.

479. So wird er des Letzten inne und findet das große Einssein.

480. Er hält sich frei von Zuneigung und Abneigung, fragt nicht nach Gewinn oder Verlust, steht über der Ehre und der Schande.

481. Darum ist ihm wirklich Adel eigen.


57. Nichtwirkenwollen Grundgesetz jeder Staatsführung

482. Durch Unbestechlichkeit fördert man des Landes Verwaltung,

483. mit Klugheit führt man ein Heer,

484. mit Nichtwollen aber gewinnt man ein Reich.

485. Woher weiß ich, dass es so ist? Es ergibt sich von selbst.

486. Ein Volk wird arm, in dem Verbote Worte und Handlungen bestimmen.

487. Jede Ordnung löst sich auf, wenn die Menschen nur ihr eigenes Wohlergehen suchen.

488. Umsturz bereitet sich vor, wenn die Menschen berechnend und absonderlich werden.

489. Diebe und Räuber wird es geben, wenn man mit Gesetzen und Befehlen glaubt Ordnung schaffen zu müssen.

Daher sagt der Weise:

490. Ich wirke nicht, so entfaltet sich das Leben in der Gemeinschaft von selbst.

491. Ich bleibe in der Stille, so wird das Volk von selber recht. Ich greife nicht in die Wirtschaft ein, so blüht das Volk von selber auf.

492. Ich bin ohne Begehr, so wird das Volk von selbst gesunden.


58. Das Geheimnis gegensätzlichen Werdens

493. Eine Verwaltung, die man nicht merkt, macht das Volk froh.

494. Eine Verwaltung, die alles bestimmen will, macht das Volk schlecht.

495. Glück ruht auf Leid. Leid harrt im Glück. Wer weiß, was eintreffen wird?

496. Ordnung führt zu Unordnung. Gutes verkehrt sich in Schlechtes.

497. Der Mensch erkennt in seiner Verblendung nicht den Wechsel aller Dinge.

498. Der Weise ist: rechtwinklig von Art – doch stößt nicht an, unantastbar – doch nicht unnahbar, offen und gerade – doch nicht verletzend, leuchtend – doch nicht blendend.


59. Staatssicherung durch geordnetes Planen

499. Wer die Menschen im Einklang mit den Ordnungen des Alls führt, der weiß um die Notwendigkeit fürsorglichen Mühens.

500. Weitsichtige Fürsorge zwingt zu kluger Planung.

501. Kluge Planung stärkt die selbstwirkenden Kräfte.

502. Wer diese Kräfte vermehrt, ist jeder Lage gewachsen.

503. Wer jeder Lage gewachsen ist, kann in seinen Wirkungsmöglichkeiten nicht erfasst werden.

504. Wer mehr Kräfte besitzt, als er zeigt, der kann ein Reich führen.

505. Wer so sein Reich nach den großen Ordnungen führt, wird nicht versagen:

506. Er gründet tief und ist festgefügt, er handelt, das Wesentliche schauend, im Sinn des Unergründlichen.


60. Sorgfalt und Lebensgehorsam in der Staatsführung

507. So sorgfältig wie man kleine Fische brät, muß man ein großes Reich regieren.

508. Wenn ein Reich im Geist des Unergründlichen regiert wird, dann spuken keine finsteren Gewalten.

509. Nicht nur spuken keine finsteren Gewalten, es geistern auch keine Unsichtbaren.

510. Nicht dass beide nicht mehr vorhanden wären, sondern sie können nicht mehr störend wirksam werden – so wenig, wie je ein Weiser störend wirksam sein kann.

511. Wenn die finsteren Gewalten und die unsichtbaren Geister nicht mehr wirksam werden können, dann können sich die besten Kräfte im Menschen entfalten.


61. Gegenseitige Hilfsbereitschaft der Staaten

512. Ein großes Reich soll wie ein tiefes Talbecken sein (in das die Flüsse strömen): Heimat der Völker, Mutter der kleinen Länder.

513. So wie im Menschenleben das Weibliche immer das Männliche durch seine Empfänglichkeit und sein Sich fügen bändigt,

514. bändigt im Staatsleben immer der Staat den andern, der für den andern empfänglich ist.

515. Empfänglichkeit ist immer Überlegensein, gleichgültig, ob der Staat groß oder klein ist.

516. Wenn der große Staat nichts will, als nur alles zu einen und zu fördern,

517. und der kleine Staat, ebenso alles fördern wollend, auch nur das Gesamtwohl sieht,

518. so gewinnen in dieser ständigen Bereitschaft füreinander beide Mächte.

519. Wahre Größe offenbart sich immer und überall nur in tiefer Empfänglichkeit und gütiger Hilfe.


62. Wiedereinfügung der aus der Gemeinschaft Gelösten

520. Das Unergründliche ist die Heimat aller Wesen, es ist der Hort der Guten und der Zufluchtsort der Nichtguten.

521. Man mag fromme und schöne Worte gebrauchen, doch nur edle Taten helfen dem Menschen zu seiner Vollendung.

522. Ist es aber edel, einen «schlechten» Menschen zu verwerfen?

523. Wozu wurde der Herrscher mit seinen Staatsmännern eingesetzt?

524. Des Kaisers Würde und der Staatsmänner Pracht kommen nicht der beharrlichen Mühe gleich, den Geist des Unergründlichen zu verwirklichen.

525. Warum hielten denn die Alten so verehrend am Unergründlichen fest?

526. Ist es nicht, weil jeder, der nach ihm strebt, das Unvergängliche findet;

527. ist es nicht, weil jedem Irrenden Heilung und Heyl werden soll?

528. Darum ist das Unergründliche des Lebens höchstes Gut.


63. Aufgabenmeisterung durch rechtzeitiges Erkennen der Schwierigkeiten

529. Wirkt durch Nichtwirken! Handelt durch Nichthandeln!

530. Findet Geschmack an dem, was keinen Genuss birgt!

531. Sehet das Große im Kleinen, das Viele im Wenigen!

532. Begegnet dem Hass mit der innerlichsten Kraft eurer Herzen!

533. Erkennet das Schwierige, ehe es schwierig ist!

534. Lasst Großes werden, indem ihr das Kleine achtet!

535. Alles Schwierige auf Erden beginnt einfach, alles Große beginnt klein.

536. So kümmert sich auch der Weise nicht um sein Heyl, darum findet er es.

537. Wer leichtfertig verspricht, ist nicht glaubwürdig.

538. Wer leichtfertig handelt, dem erwachsen Schwierigkeiten.

539. Der Weise erkennt rechtzeitig die Schwierigkeiten, darum vermag er alles zu meistern.


64. Lebensmeisterung durch Beachten der Lebensgesetze

540. Was noch verharrt, kann leicht festgehalten werden.

541. Was noch nichts gilt, kann leicht beeinflusst werden.

542. Was noch schwach ist, kann leicht gebrochen werden.

543. Was noch federleicht ist, kann leicht verweht werden.

544. Bevor etwas wird, muß man auf es wirken.

545. Bevor etwas verwirrt ist, muß man es ordnen.

546. Jeder Riese unter den Bäumen hatte einmal ein einziges Wurzelhaar.

547. Auch ein neunstöckiger Bau erstand auf einer Scholle.

548. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem ersten Schritt.

549. Wer etwas (wider die Gesetze des Lebens) erreichen will, der muß scheitern.

550. Wer etwas mit Gewalt gewinnen will, der muß es verlieren.

551. Daher ist der Weise nicht eigenwillig, und daher scheitert er auch nicht.

552. Er reißt nichts an sich, daher verliert er nichts.

553. Die andern scheitern oft kurz vor dem Ziel, weil sie nicht auf die rechte Stunde warten können.

554. Würden sie Anfang und Ende bedenken, würde es ihnen auch gelingen.

555. Darum erstrebt der Weise die Wunschlosigkeit; er erstrebt nichts, was andern erstrebenswert erscheint.

556. Ihm bedeutet Verstandeswissen nichts.

557. Was nicht beachtet wird, beachtet er.

558. So erwirkt er des Lebens Ordnung in sich und andern und stört niemals die Entwicklung aus sich selbst.


65. Der Segen der Herzensbildung und die Gefährlichkeit der Scheinbildung

559. Die Alten, im Unergründlichen wurzelnd, (wussten um das Wesen der echten Bildung, darum) gaben (sie) dem Volke Herzens- und nicht Verstandesbildung.

560. Für eine Staatsführung gibt es nichts Gefährlicheres als ein aufgeklärt erscheinendes Volk.

561. Einen Staat mit aufgeklärten Massen lenken zu wollen, führt zu Unheil.

562. Segen wird nur, wo man auf Scheinwissen verzichtet.

563. Wer dies beachtet, handelt vorbildlich.

564. Solch vorbildliches Wirken lässt einen stets auf dem rechten Wege sein.

565. Denn es weiß um die geheimnisvolle Macht aller selbstwirkenden Kräfte, die den Massen immer fremd bleiben.

566. Der Gehorsam aber gegenüber den selbstwirkenden Kräften bewirkt der Welt Ordnung.


66. Nichtwollen, Voraussetzung wahren Herrschertums

567. Ströme und Seen beherrschen die Täler, weil sie deren Grund einnehmen.

568. Aus dem Urgrund zu wirken, ist Voraussetzung jeglichen Herrschertums.

569. Darum wird der weise Herrscher, wenn er wirklich über dem Volk stehen will, sich in seinen Worten bescheiden beugen, wenn er führen will, sein Ich verleugnen.

570. So herrscht er wahrhaft, und das Volk wird nicht bedrückt; er herrscht, ohne dass das Volk sich beeinträchtigt fühlt.

571. Alles folgt ihm gern und erhöht ihn; jeder fühlt sich geborgen und frei.

572. Nichts wollend, will auch niemand auf der Welt etwas von ihm.


67. Die Wirksamkeit der sittlichen Grundwerte für die Gemeinschaft

573. Die Menschen sagen, ich sei groß – als ob ich etwas Besonderes wäre!

574. Nur der ist groß, dem seine Größe nichts bedeutet.

575. Wer vor anderen groß Sein will, ist sicher klein.

576. Drei Werte habe ich, die mir heilig sind:
der erste heißt: Güte,
der zweite: Genügsamkeit,
der dritte: Bescheidenheit.

577. Güte gibt Kraft, Genügsamkeit gibt der Enge Weite, Bescheidenheit lässt einen zum Gefäß werden für das Wirken der ewigen Kräfte.

578. Heute ist es meist so: Man kennt keine Güte mehr und glaubt dennoch Kraft haben zu können. Man besitzt keine Genügsamkeit mehr, sondern kennt nur Ansprüche. Man kann nicht mehr bescheiden zurücktreten, sondern giert nach Erfolg. Das aber führt zum Zerfall.

579. Wer wahrhaft gütig ist, siegt im Kampf und ist unüberwindlich, wenn der Feind drängt; ihn segnet der Himmel auch durch Güte.


68. Herzgewirktes Tun wirkt Frieden

580. Ein wirklicher Fachmann überzeugt, aber streitet nicht.

581. Ein guter Soldat kämpft, aber wütet nicht.

582. Ein wahrer Sieger ist überlegen, aber reizt nicht.

583. Ein rechter Menschenführer stellt die Menschen auf den richtigen Platz, aber beherrscht sie nicht.

584. Solch herzgewirktes Tun wirkt Frieden.

585. Es enthält die hohe Kunst der Menschenführung.

586. Es ist ein Wirken im Sinn des Himmels.

587. Solches Tun gilt seit Vorzeiten als höchstes.


69. Siege durch kluges Sichbescheiden

588. Wer seinen Gegner gewinnen will, der spiele in Feindesland nicht den Hausherrn, sondern betrage sich wie ein Gast.

589. Er weiche lieber einen Fuß zurück, als dass er einen Zoll vorrücke.

590. So kommt er voran, ohne zu marschieren.

591. So kann er zurückweisen, ohne zu drohen.

592. So kann er vordringen, ohne zu kämpfen.

593. So kann er Besitz ergreifen, ohne die Waffen zu gebrauchen.

594. Es gibt kein größeres Übel, als den Feind zu unterschätzen.

595. Wer den Feind leicht nimmt, verliert seine Schätze.

596. Sind die Heere gleich stark, siegt der besonnenere Feldherr.


70. Geringe Zahl der Berufenen

597. Das Wahre ist einfach zu verstehen und leicht zu befolgen, und doch hört es keiner und befolgt es niemand.

598. Wort und Werk wollen aus dem Urgrund aufsteigen.

599. Wer dies nicht erkennt, erkennt auch das Unergründliche in meiner Lehre nicht.

600. Immer verstehen nur wenige das Tiefste, darin liegt auch meine Würde.

601. Der Weise trägt nach außen ein unscheinbares Gewand, doch birgt er in seinem Inneren edelsten Schmuck.


71. Freiheit vom Bildungswahn

602. Wer um sein Nichtwissen weiß, aus dem leuchtet der Adel des Geistes; wer darum nicht weiß, ist in Wahn verstrickt.

603. Nicht verfällt der dem Wahn, der den Wahn als solchen erkennt.

604. Der Weise ist frei von allem Wahn.

605. seinen Wahn als Wahn erkannt habend, ist er ohne Wahn.


72. Die Wechselwirkung alles Geschehens

606. Wenn die Menschen das Grauen nicht fürchten, überfällt sie das Grauen.

607. Aber man trage das Grauen nicht in ihre Heimstatt und mache ihnen das Leben nicht verdrießlich.

608. Nie werden sie verdrießlich, wenn man ihnen das Leben nicht vergällt.

609. Obwohl der Weise seinen Wert kennt, trägt er ihn nicht zur Schau.

610. Obwohl er um seine Würde weiß, beansprucht er keine Ehre.

611. Er weiß zwar um seine Möglichkeiten, bleibt aber in seinen Grenzen.


73. Höchste Sittlichkeit Wegweiser bei jedem Zweifel

612. Wer mutig wagt, der wagt auch zu töten.

613. Wer mutig genug ist, (in den Augen der andern) feig zu gelten, der wagt auch ein Leben zu erhalten.

614. Töten und Leben lassen – beides ist manchmal gut, manchmal schlecht.

615. Wer wagt zu wissen, welches Urteil von den ewigen Mächten anerkannt wird?

616. Der Weise weiß es nicht. (Im Zweifel erinnert er sich des Wirkens des Unergründlichen.)

617. Das Unergründliche aber offenbart sich immer so:

618. es setzt sich durch – ohne Gewalt,

619. es gebietet – ohne Befehl,

620. es lockt – doch drängt nicht auf,

621. es wirkt zielbewusst – doch ohne Absicht.

622. Es ist ein Netz, weitmaschig zwar, doch nichts durchlassend.


74. Vom Gericht über Leben und Tod

623. Wenn das Volk den Tod nicht fürchtet, wer wollte es dann mit Todesfurcht regieren?

624. Fürchtet es den Tod, und es wird dennoch ein abscheuliches Verbrechen begangen, wer getraute sich dann zu töten?

625. Es findet sich immer ein Gerichtsherr, der Todesurteile fällt und vollstreckt.

626. Wer aber sich selbst zum Richter über Leben und Tod macht, der gleicht einem, der, an Stelle des Zimmermeisters die Axt benutzend, sich nur zu leicht selbst in die Hand haut.


75. Die Ursachen politischer Unruhen

627. Das Volk leidet, wenn die Herrschenden es aussaugen, daher seine Not.

628. Das Volk grollt, wenn es die Herrschenden nicht in Ruhe lassen, daher seine Widerspenstigkeit.

629. Das Volk wird gleichgültig gegenüber dem Tod, wenn sich die Herrschenden als Herren des Lebens aufspielen, daher der Lebens Überdruss.

630. Doch der ist weiser, der nicht am Leben hängt, als der, der am Leben haftet.


76. Die Wirkungskraft des Lebendigen

631. Weich und zart ist der Mensch bei seiner Geburt, starr und knöchern, wenn er stirbt.

632. Fein und biegsam sind die Pflanzen, wenn sie entstehen, hart und saftlos, wenn sie absterben.

633. Starr und hart ist, was dem Tod anheimfällt, weich und zart ist, was vom Leben erfüllt ist.

634. Wer glaubt, nur durch Waffen stark sein zu können, wird nicht siegen; mächtig scheinende Bäume sind immer am Ende.

635. Daher gilt: Was groß und mächtig scheint, ist schon auf dem Weg zum Zerfall, was aber unscheinbar, zart und weich ist, das wächst.


77. Selbstloses Tun schafft echten Ausgleich

636. Des Himmels Wirken gleicht dem Spannen des Bogens: es macht das Hohe niedrig und das Niedrige hoch; es nimmt, wo zuviel ist, fügt hinzu, wo zu wenig ist.

637. Immer ist des Himmels Wirken so: Er nimmt aus der Fülle und gibt sich der Leere.

638. Menschen handeln anders: sie nehmen, wo schon wenig ist, und fügen hinzu, wo schon viel ist.

639. Wer im Unergründlichen gründet, schenkt der Gemeinschaft aus seiner Fülle.

640. Daher wirkt der Weise, ohne etwas für sich zu beanspruchen, und ohne an seinem Werk zu haften.

641. Er will nichts sein und nichts haben.


78. Die Größe sittlich-religiöser Tragkraft

642. Es gibt in der Welt nichts, was sich mehr seinem Grunde einfügt und weicher ist als Wasser, zugleich nichts, was stärker ist und selbst das Härteste besiegt; es ist unvergleichbar und unbezwingbar.

643. Dass das Schwache das Starke und das Weiche das Harte besiegt, weiß zwar jedermann, doch niemand lebt und wirkt danach.

644. Nur der Weise erkennt als wahr: «Wer bei den Erdopfern den Staub des Landes auf sich nimmt, der ist der Herr des Erdaltars.

645. Wer des Reiches Schuld und Unglück auf sich nimmt, der ist des Reiches Herr.»

646. Unangenehme Wahrheiten sind dies!


79. Lebensgehorsam zeigt sich In Pflichterfüllung

647. Was hilft es, wenn großer Hass verschwunden ist, kleiner aber bleibt?

648. Der Weise kennt daher bei einem Vertrag nur seine Pflichten, nie fordert er sein Recht.

649. Wer seinem Innersten vertraut, denkt nur an seine Verpflichtungen und pocht nie auf sein Recht.

650. Die ewigen Mächte bevorzugen niemanden, sie segnen aber stets den Besten.


80. Vom Eigenrecht des kleinsten Staates

651. Ist ein Land auch klein und hat es nur wenige Bewohner, was liegt daran

652. Und hätte es nur Ausrüstung für zehn bis hundert Mann, die ihre Waffen nicht einmal benutzten, man lasse seine Bewohner in Ruhe leben, man lasse sie auf ihrer Scholle sitzen.

653. Und benützten sie ihre Schiffe und Streitwagen nicht und würden sie nie ihre Waffen und Rüstungen gebrauchen, man lasse sie ruhig zum Brauchtum ihrer Väter zurückkehren.

654. Sie sind zufrieden mit ihrer Nahrung, freuen sich an ihrer Tracht, finden ihre Behausung schön, Sitte und Recht erscheinen ihnen in Ordnung.

655. Und wenn die Grenzen der Nachbargebiete so nahe wären, dass Hahnenschrei und Hundegebell von hüben und drüben gehört werden könnten,
man lasse sie fröhlich leben, zufrieden altern, ruhig sterben, doch zwinge man sie nicht, ihre Freiheit aufzugeben!


81. Alles Wesentliche vollendet sich im Alltag

656. Wahre Worte schmeicheln nicht. Schöne Worte überzeugen nicht.

657. Echte Menschen blenden nicht. Blender sind nicht echt und wahr.

658. Weise Menschen sind keine Vielwisser. Vielwisser sind keine Weisen.

659. Wer den Weg der Vollendung geht, sammelt keine Schätze; ihm ist Besitz, was er für andere tut;

660. je mehr er sich verschenkt, desto mehr wird ihm.

661. Wie aus dem Unergründlichen das Leben quillt, ohne zu schaden, so wirkt der Weise, ohne zu verletzen.