Rudolf Steiner – Über das zehnblättrige Buch

Über das zehnblättrige Buch

Rudolf Steiner

Rudolf_Steiner

Es gibt von allen Dingen Urbilder, die auf den höheren Planen leben. Diese schaut der Geheimwissende. Das Lesen in den geistigen Urbildern nennt man im Okkultismus: Das Lesen im zehnblättrigen Buch.

Was in der geistigen Welt vorgeht, entdeckt man nicht nach und nach in Einzelheiten, sondern vor dem geistigen Auge des Forschenden liegen alle Dinge klar. Dieser Dinge sind zehn. Das ist das zehnblättrige Buch.

Die zehn Seiten dieses Buches sind folgende – aber die Vorbedingung zum Lesen dieses Buches ist das Erleben dessen, was dieses Buch enthält.

Erstes Blatt: Man erlebt innerlich Entstehen und Vergehen. Beispiel: Wenn man eine Blume anschaut; sie ist entstanden und sie vergeht. Sie hinterlässt einen Keim, der auch verfault. Ein ganz kleines Keimchen nur bleibt. Die ganze neue Pflanze ist in diesem enthalten. Die Pflanze wechselt ab zwischen großer Ausdehnung und einer Wesenheit, die wie in ein Nichts zusammengedrängt ist, ins Punktuelle. Dieses Sichausdehnen und in einen Punkt Zusammendrängen kann man in der ganzen Natur verfolgen. Es ist auch beim Menschen so und ist im ganzen Sonnensystem so. Da sprechen wir von Manvantara – Ausdehnen – und von Pralaya – in einen Punkt Zusammenschrumpfen. Dieser Zustand des in einen Punkt Zusammengedrängtseins, in dem das ganze reiche Leben zusammengedrängt ist und aus dem es hervorquillt, muss man in sich zum Erleben bringen. Man versetzt sich innerlich in den Zustand des Anschauens des Punktuellen; in diesen muss sich der Geheimschüler versetzen. Er muss innerlich einen Punkt erleben, der alles enthält und aus dem alles hervorquillt, der nichts und alles ist; der die Einheit von Sein und Kräften enthält. Es gehört zu den Geheimnissen, sich hineinzuversetzen in einen solchen Zustand, dass man erleben kann, wie aus dem Nichts das All entspringt. – Das ist das Lesen des ersten Blattes.

Zweites Blatt: In aller Welt die Zweiheit erleben. Überall findet man die Zweiheit: männlich und weiblich, Licht und Schatten, positiv und negativ, gut und böse. Die Zweiheit ist tief begründet in der Natur alles Werdens. Der Geheimschüler muss sich ganz klar sein, sich ganz klarmachen, zuerst im eigenen Leben, wie die Zweiheit überall wirkt. Er muss ganz und gar in diesen Zweiheiten zu denken lernen. Er darf nie nur das eine, er muss immer beide miteinander denken. Wenn er zum Beispiel an sein Verhältnis zum Göttlichen denkt, so soll er denken: In mir lebt ein göttliches Ich – ich lebe im göttlichen Ich. – Ich bin ein sinnliches Wesen, aber ich werde sein ein geistiges Wesen. – Ich war einst ein geistiges Wesen und musste ein sinnliches Wesen werden. – Man muss sich die innere Pflicht auferlegen, immer in solchen Zweiheiten zu denken. Wenn man so in Dualität zu denken lernt, dann denkt man erst richtig.

Drittes Blatt: Die Dreiheit, die wiederum allenthalben enthalten ist, bedenken. Der Mensch ist dreigliedrig. – Vater, Sohn, Geist. – Das, was die Menschen als waltende Gottheit in den Mysterienstätten verehrten, war dreigliedrig, zum Beispiel: Osiris, Isis, Horus. Dies schließt ein wichtiges Geheimnis in sich. Wer sich gewöhnt, die Zweigliedrigkeit sich zu übersetzen in die Dreigliedrigkeit, durchschaut vieles. Die Welt in ihrer Dreigliedrigkeit durchdenken, heißt: sie mit Weisheit durchdenken.

Viertes Blatt: Das ist der Mensch als Vierheit. Leib, Seele, Geist und das Selbstbewusstsein. Die niedrigste Natur des Menschen entwickelt aus sich heraus die höhere. Das enthält das Geheimnis der Vierheit, die sich aus der Dreiheit entwickelt. Diese Vierheit trifft man bei allen Wesen an. Alle Wesen sind für den umfassenden Blick gleich. Der Mensch ist eine Vierheit, die auf dem physischen Plan lebt. Der Löwe lebt nicht mit seiner Vierheit auf dem physischen Plan; hier hat er nur seine Dreiheit: physischen Leib, Ätherleib, Astralleib; sein Ich als sein Viertes lebt in der geistigen Welt.

Mensch Löwe
4 mental 4 Ich (aus der geistigen Welt)
3 astral 3 astral
2 ätherisch 2 ätherisch
1 physisch 1 physisch

Auch die Pflanze und auch das Mineral haben ihre Vierheit. Die Pflanze ist nur mit dem physischen Leib und dem Ätherleib auf dem physischen Plan. Pflanze und Mineral haben die anderen Teile ihrer Vierheit in der geistigen Welt. Aber eine Vierheit haben Menschen, Tier, Pflanze und Mineral. Diese muss der Schüler des Okkultismus immer innerlich miterleben, wenn er das vierte Blatt lesen will.

Fünftes Blatt: Beim Lesen desselben enthüllt sich alles dasjenige, was der Mensch aus sich herausprojiziert. Idolatrie. – Der Mensch bringt das Übersinnliche in Zusammenhang mit dem Sinnlichen. Der Mensch ist ein denkendes, ein vorstellendes Wesen. Die Welt der Mythen und Sagen stellt das in mannigfacher Weise dar. Es besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen den Mythen und Sagen aller Völker. Die Pferde-Mythe hat einen tiefen Zusammen- hang mit dem, was dieses fünfte Blatt enthält. Das Pferd stellt dar ein Wesen, das auf einer gewissen Stufe zurückgeblieben ist. Die Anlage zur späteren Klugheit wurde zuerst der hyperboräischen Rasse gegeben. Nun ist in aller Höherentwicklung verborgen das Prinzip der Entwicklung nach oben auf Kosten eines Zurückbleibenden. Damals, als der Mensch die Anlage zur Klugheit entwickelte, war das nur dadurch möglich, dass die Menschennatur aus sich herausstieß dasjenige, was die Pferdenatur enthält.

Sechstes Blatt: Dieses enthält die Geheimnisse über das, was der Mensch als das Übersinnliche erkennt, und zu dem er hinstrebt. Die Ideale der Menschheit sind auf diesem sechsten Blatt verzeichnet, zum Beispiel die Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das Zusammenschließen der menschlichen Natur mit etwas, was noch nicht da ist, was sich der Mensch erst erringen muss, ist auf diesem sechsten Blatt. Der Mensch lernt hinschauen auf Zukunftszustände der Menschheit, auf das Sehen der Keime der Zukunft in der Gegenwart.

Siebentes Blatt: Da lernt der Schüler das Geheimnis der Siebenzahl verstehen. Er lernt: Ich bestehe aus der Dreiheit, aus ihr soll hervorgehen eine höhere Dreiheit; das ist die Sechsheit. Ausgehend von der Dreiheit, kehrt er zurück zu einer höheren Dreiheit, der Sechsheit. Er selbst ist der Siebente.

Achtes Blatt: …
Neuntes Blatt: …
Zehntes Blatt: …

Der Mensch eilt gegenwärtig auf dem physischen Plan einem Stadium zu, das nicht ertragen werden könnte, wenn nicht das spirituelle Leben sich entwickelte.
Er wird, und zwar in nicht allzu ferner Zeit, Herr sein über furchtbare Kräfte, die er auf dem physischen Plan wird wirken lassen. Er wird zum Beispiel Detonationen, Explosionen an entfernten Orten erzeugen können, ohne dass jemand imstande sein wird, den Urheber zu erkennen.

Wehe, wenn der Mensch dann moralisch nicht auf der Höhe steht und diese furchtbaren Kräfte nicht nur und ausschließlich zu guten Zwecken gebraucht! Diese Zeit haben die Lenker der Menschheit, die Meister, vorausgesehen, und es ist die Mission der theosophischen Lehre, die Gemüter vorzubereiten auf das Kommende, sie zu warnen, ihnen Weg und Ziel zu zeigen.

Louis Claude de Saint-Martin:
Das zehnblättrige Buch

Diese unaussprechlichen Vorteile hafteten an dem Besitz und dem Verständnis eines überköstlichen Buchs, das zu den Geschenken gehörte, die der Mensch mit seinem Dasein erhalten hatte. Obgleich dies Buch nur zehn Blätter enthielt, so fasste es doch in sich alle Einsichten und alle Erkenntnisse von dem, was gewesen ist, von dem, was ist, und von dem, was sein wird; und das Vermögen des Menschen war damals so ausgedehnt, dass er auf allen zehn Blättern des Buchs zugleich lesen, und es mit einem Blick umfassen konnte.

Bei seinem Fall ist zwar das nämliche Buch ihm geblieben, er ist aber des Vermögens beraubt werden, so leicht darin lesen zu können, und er kann nicht mehr alle dessen Blätter kennen lernen, als eins nach dem andern. Und doch wird er nimmermehr in seine Rechte gänzlich hergestellt werden, bis er sie alle studiert hat; denn obgleich ein jedes von diesen zehn Blättern eine besondere und ihm eigentümliche Kenntnis enthält, so hängen sie doch so untereinander zusammen, dass es unmöglich ist, eins davon vollkommen inne zu haben, wenn man es nicht dahin gebracht hat, sie alle zu kennen; und wiewohl ich gesagt habe, der Mensch könne sie nicht mehr lesen als eins nach dem andern, so würde doch jedwedem seiner Schritte die Sicherheit fehlen, wenn er sie nicht alle im ganzen durchlaufen wäre, und hauptsächlich das vierte, das allen übrigen zum Vereinigungs-Punkt dient.

Dies ist eine Wahrheit, welche die Menschen wenig in Acht genommen haben, und doch wäre es ihnen unendlich nötig, sie zu beherzigen und zu erkennen; denn sie werden alle mit dem Buch in der Hand geboren; und wenn das Studium und das Verständnis dieses Buchs gerade der Beruf ist, den sie zu erfüllen haben, so kann man urteilen, wie wichtig für sie es sei, dabei keinen Fehltritt zu begehen.

Sie aber haben ihre Nachlässigkeit über diesen Punkt bis aufs äußerste getrieben; man findet unter ihnen fast gar keine, die da bemerkt hätten jenen wesentlichen Zusammenhang der zehn Blätter des Buchs, dadurch sie in alle Wege unzertrennlich sind. Einige sind bei der Hälfte dieses Buchs stehen blieben, andere beim dritten Blatt, andere beim ersten; daher sind hervorkommen die Atheisten, die Materialisten und die Deisten; einige haben den Zusammenhang wohl gewittert, sie haben aber den wichtigen Unterschied nicht gefasst, der zwischen einem jedweden von diesen Blättern zu machen war, und haben sie, als Blätter eines Buchs, alle gleich und einerlei Natur gehalten.

Was ist nun davon die Folge gewesen? Diese: dass sie, die sich bloß auf die Stelle des Buchs, über die sie nicht Mut hatten hinauszugehen, einschränkten und sich doch darauf stützten, sie sprächen bloß nach dem Buch, sich selbst gedünkt haben, als verstünden sie es ganz; und da sie, eben dadurch verleitet, nun sich für untrüglich in ihrer Lehre hielten, haben sie ihr Möglichstes getan, es der Welt weis zu machen.

Aber diese isolierten Wahrheiten, die keine Nahrung empfingen, verwelkten sehr bald in der Hand derer, die sie so isoliert hatten, und es blieb diesen unverständigen Menschen nichts übrig als ein eitles Gespenst von Wissenschaft, das sie, ohne Betrügerei zu Hilfe zu nehmen, für keinen festen Körper oder für kein wahres Wesen ausgeben konnten.

Das ist richtiglich die Quelle, daher alle die Irrtümer entsprungen sind, die wir in der Folge dieser Traktats werden zu untersuchen haben, sowie auch die Irrtümer alle, die wir schon über die zwei entgegengesetzten Prinzipien, über die Natur und die Gesetze der körperlichen Wesen, über die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen und über die Prinzipien und den Ursprung seiner Religion und seines Gottesdienstes in Anregung gebracht haben.

Man wird weiterhin sehen, auf welchen Teil des Buchs die Fehltritte hauptsächlich gefallen sind; ehe wir aber dazu kommen, wollen wir zuvor die Idee, die man von diesem unvergleichlichen Buch haben muss, vollenden, und zu dem Ende die verschiedenen Wissenschaften und die verschiedenen Eigenschaften, davon ein jedes seiner Blätter die Kenntnis in sich fasste, umständlich angeben.

Das erste handelte: von dem allgemeinen Prinzipio oder von dem Mittelpunkt, aus dem alle Mittelpunkte ohne Unterlass ausfließen.

Das zweite: von der gelegentlichen Ursache des Universi; von dem zwiefachen körperlichen Gesetz, dadurch es besteht; von dem zwiefachen verständigen Gesetz, das in der Zeit agiert; von der zwiefachen Natur des Menschen; und überhaupt von allem dem, was aus zwei Aktionen zusammengesetzt und gebildet ist.

Das dritte: von der Grundfeste der Körper; von allen den Resultaten und Produktionen aller Arten; und hier findet sich die Zahl der immateriellen Wesen, die nicht denken.

Das vierte: von allem, was tätig ist; von dem Prinzipio aller Sprachen, so derer, die zeitlich als die außer der Zeit sind; von der Religion und dem Gottesdienst des Menschen; und hier findet sich die Zahl der immateriellen Wesen, die denken.

Das fünfte: von der Abgötterei und von der Fäulung.

Das sechste: von den Bildungsgesetzen der zeitlichen Welt, und von der natürlichen Teilung des Zirkels durch den Radium.

Das siebente: von der Ursache der Winde und von der Ebbe und Flut; von dem geographischen Maßstab des Menschen; von seiner wahren Erkenntnis, und von der Quelle seiner verständigen oder sinnlichen Produktionen.

Das achte: von der zeitlichen Zahl desjenigen, der die einzige Stütze, die einzige Kraft und die einzige Hoffnung des Menschen ist, das ist, von dem reellen und physischen Wesen, das zwei Namen und vier Zahlen hat, insoweit als es zugleich tätig und verständig ist, und seine Aktion über die vier Welten ausdehnt. Es handelte auch von der Gerechtigkeit und von der gesamten gesetzgebenden Gewalt; welches in sich begreift die Rechte der Fürsten und die Autorität der Generals und der Richter.

Das neunte: von der Bildung des körperlichen Menschen in dem Leibe des Weibes, und von der Auflösung des allgemeinen und besonderen Triangels.
Das zehnte endlich war der Weg und das Komplement der neun vorhergehenden. Es war ohne Zweifel das allerwesentlichste und eigentlich das Blatt, ohne das alle die vorhergehenden nicht würden gekannt sein; denn wenn man sie alle zehn in Zirkumferenz ordnet, nach ihrer numerischen Ordnung, so findet sich die meiste Verwandtschaft zwischen ihm und dem ersten, aus dem alles ausfließt; und wenn man von seiner Wichtigkeit urteilen will, so wisse man, dass der Urheber der Dinge eben durch dies zehnte Blatt unüberwindlich sei, weil es eine Wagenburg ist rund um ihn her, und die kein Wesen überschreiten kann.

Da denn also in diesem Verzeichnis alle Kenntnisse enthalten sind, denen der Mensch nachtrachten kann, und die Gesetze, die ihm auferlegt sind; so ist klar, dass er nimmermehr weder irgend eine Erkenntnis erhalten, noch je eine von seinen wahren Pflichten werde erfüllen können, wenn er nicht in dieser Quelle schöpfen geht; auch wissen wir nunmehr, welches die Hand sei, die ihn dahin leiten muss, und dass er, wenn er durch sich selbst nicht einen Schritt vermag zu tun zu dieser fruchtbaren Quelle hin, doch gewiss sein kann, dahin zu gelangen, so er vergisst seinen Willen, und agieren lässt den Willen der tätigen und verständigen Ursache, die allein für ihn agieren muss.

Lasst uns ihm also Glück wünschen, dass er noch finden kann in seinem Blende eine solche Stütze; sein Herz hoffe wieder und schöpfe Mut, wenn er sieht, dass er noch jetzt in diesem köstlichen Buch, ohne Irrtum, entdecken kann: die Natur und die Eigenschaften der Wesen, die Ursache der Dinge, die gewissen und unveränderlichen Gesetze seiner Religion und des Gottesdienstes, den er dem ersten Wesen notwendig leisten muss; das ist, da er zugleich verständig und sinnlich ist und da nichts existiert, das nicht eins von beiden sei, dass er denn die Beziehungen Seiner-selbst mit allem, was existiert, einsehen muss.

Denn wenn dies Buch nur zehn Blätter hat und es dennoch alles enthält, so kann nichts existieren, ohne dass es durch seine Natur zu einem oder dem anderen der zehn Blätter gehöre. Nun ist aber nicht ein einiges Wesen, das nicht selbst anzeige, welche seine Klasse sei, und zu welchem von den zehn Blättern es gehöre. Ein jedwedes Wesen gibt uns also dadurch die Mittel an Hand, uns über alles, was es angeht, zu unterrichten. Um aber in diesen Kenntnissen den rechten Weg zu halten, muss man wissen, zu unterscheiden die wahren und einfachen Gesetze, welche die Natur der Wesen gestalten, von denen, welche ihnen die Menschen alle Tage andichten und unterschieben.