Rudolf Steiner – Weltensein und Menschenwerden

Weltensein und Menschenwerden. Das Fest der Geistessonne in den ägyptischen Mysterien.

Rudolf Steiner
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Folgen Sie mir einige Augenblicke in Gedanken in die uralten ägyptischen Tempelstätten zu einer Zeremonie, welche um die Mitternachtsstunde desjenigen Tages gefeiert wurde, der unserem Weihnachtstag entspricht. An diesem Tage – oder vielmehr um Mitternacht – wurde eines derjenigen Bildnisse, welche nur viermal des Jahres gezeigt werden, in diesem Tempel enthüllt und vor eine kleine Menge getragen, die zu diesem Tempeldienst vorbereitet war. Dieses Bild war im innersten Heiligtum des Tempels das ganze Jahr hindurch eingeschlossen und streng geheim gehalten. An diesem Tage wurde es von dem ältesten der Opferpriester herausgetragen, und es wurde vor ihm eine Zeremonie verrichtet, die ich Ihnen ganz kurz beschreiben will.

Nachdem der älteste der Opferpriester das strahlende Bildnis des Horus, des Sohnes der Isis und des Osiris, herausgetragen hatte, traten vier Priesterweise in weißen Gewändern vor dieses Bild. Der erste der Priesterweisen sprach vor dem Bilde das Folgende: “Horus, der du die Sonne im geistigen Reiche bist, und der du uns das Licht deiner Weisheit schenkst, wie uns die Sonne das Licht der Welt schenkt, führe uns, auf dass wir am Ende nicht mehr das sein werden, was wir heute sind.” Dieser Tempelpriester war von Osten hereingetreten. Der zweite der Tempelpriester trat von Norden herein und sprach etwa die folgenden Worte: “Horus, du Sonne im geistigen Reiche, der du uns der Spender der Liebe bist, wie die Sonne der Spender der wärmenden Kraft ist, die die Kräfte der Pflanzen und Früchte das ganze Jahr hindurch herauslockt, führe uns zu einem Ziele, damit wir sein werden, was wir heute noch nicht sind.” Und der dritte der Tempelpriester kam von Süden und sprach: “Horus, du Sonne im geistigen Reiche, spende uns deine Kraft, wie die Sonne der physischen Welt ihre Kraft spendet, durch die sie die dunkelste Wolke zerteilen und überall Licht verbreiten wird. “ Nachdem dieser dritte Opferpriester gesprochen hatte, trat ein vierter hervor und sagte etwa folgendes: “Die drei Weisesten von uns haben gesprochen. Sie sind meine Brüder, aber sie sind hinaus über die Sphäre, in der ich selbst noch bin. Ich bin der Vertreter von euch” – und er meinte: der Vertreter der Menge – und er sagte: “Ich will eure Stimme führen. Ich will sprechen für euch, die ihr noch als Unmündige dasteht. Ich will meinen älteren Brüdern sagen, dass ihr das große Ziel der Welt ersehnt, wo Menschenschicksal und urewiges Weltengesetz versöhnt sein werden.” Das sollte in dieser Stunde begriffen werden von denen, die genügend dazu vorbereitet waren, wie einst unwandelbares Weltengesetz und Menschenschicksal eins waren.

Wenn wir die Zeremonien verstehen, die sich am Weihnachtsfest in Asien, Indien und selbst in China abgespielt haben, dann verstehen wir, was uns eigentlich in den Weihnachtsglocken erklingt. Einen Makrokosmos hat man von jeher die Welt genannt, und einen Mikrokosmos den Menschen. Andeuten wollte man damit, dass der Mensch die Kräfte in sich enthält, welche draußen im Großen vorhanden sind. Aber nicht nur der berechnende Verstand hat den Menschen die Welt im Kleinen genannt, sondern auch das Gemüt, das uns sagt, dass man aufblicken muss zu den Gestirnen. Hier trifft ein Wort des Philosophen Kant zu: “Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”

Wie verschieden sind Makrokosmos und Mikrokosmos, wenn wir sie von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachten. Gerade gegenüber dem Makrokosmos mit seinen unwandelbaren ewigen Gesetzen sind diejenigen von tiefster Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt, welche zu den tiefsten Wissenden gehören. Es hat keine Wissenden gegeben, welche die Weltenweisheit durchschaut und nicht zugleich voll Bewunderung vor dem schaffenden Weltengeist gestanden haben. Und derjenige, der zum ersten Mal in vertraulichem Umgang mit diesem unwandelbaren Gesetzesschaffen gestanden hat‚ Kopernikus, der Begründer unserer Weltanschauung, hat die Worte gesprochen: “Wer sollte hineinschauen in den wunderbaren Bau des Weltenganzen und nicht den Schöpfer bewundern, wenn er mit den Gesetzen im Umgang steht, die er der Welt eingepflanzt hat.” Die Wissenden bewundern die urewigen Gesetze des Sternenhimmels am allermeisten.

Anders scheint es dem Menschenschicksal gegenüber zu sein. Goethe sagt, dass er sich gerne von den Wandelgängen des Menschen zu den festen Regeln der ewigen Natur flüchte. Wandelbar und in Irrgängen befangen erscheint das moralische Gesetz mit seinem kategorischen Imperativ.

Noch in einer anderen Weise empfinden wir den Unterschied zwischen dem menschlichen Herzen und dem Weltengeist, dem Makrokosmos. Diesen Unterschied empfinden wir, wenn wir auf den Zusammenhang des Menschenschicksals und des Charakters des Menschen sehen. Wer würde einem Vulkan eine Verantwortung auflasten? Wohl niemand. Dem Menschen aber, der Unheil anrichtet, müssen wir sehr wohl eine Verantwortung auflasten. Wer würde der Natur gegenüber von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sprechen? Und woher kommt es denn, dass der Gute leidet und der Böse glücklich sein kann?

Wir sehen eine Harmonie innerhalb des Makrokosmos. Welche Stellung haben wir ihr gegenüber einzunehmen? Klar und deutlich ist in jener Zeremonie, die ich beschrieben habe, das vorgezeichnet, was in dem Fest, das so wenig verstanden wird, in einigen Tagen an uns vorüberzieht.

Der Sternenhimmel mit seinen unwandelbaren Gesetzen, er war nicht immer der Kosmos, der uns jetzt erscheint. Dieser Kosmos ist aus dem Chaos hervor- gegangen. Aus ineinander wogenden Kräften hat sich das erst entwickelt, was wir heute haben. Nicht immer galten die Kopernikanisch-Keplerschen Gesetze, die uns die Weisheit des Weltengeistes bewundern lassen. Sie scheint heute ausgegossen, erhaben über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Nicht nach Gut und Böse können wir da fragen. Dem Menschen gegenüber aber können wir das wohl fragen. Wir legen uns heute die tiefere Frage vor: Warum fragen wir dem Menschen gegenüber nach Gut und Böse, nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Warum dürfen wir dem Makrokosmos gegenüber diese Frage nicht aufwerfen? Damals, als die Welt noch ein wogendes Meer darstellte, gab es mitten zwischen dem, was die Augen sehen, die Ohren hören, die Sinne wahrnehmen, zwischen dem, was uns heute in den Gesetzen der Harmonie erscheint, noch ein wogendes Meer von raumdurchwogenden Gefühlen, von Wünschen und Leidenschaften draußen im Weltenall.

Diese Weltenleidenschaften‚ welche mitten darinnen waren zwischen den Gesetzen und dem Chaos, mussten erst überwunden werden. Wer sich heute die Welt der Weltenwünsche und Weltenleidenschaften einer Urvergangenheit vor Augen führt, der kann kaum den Körper der Leidenschaften mehr wahrnehmen. Glänzend und durchsichtig, sternenhell, kaum wahrnehmbar mit den feinsten Werkzeugen des Sehers, leuchtet es in jedem Atom, nachdem das Chaos überwunden ist.

Was den Astralkörper des Kosmos zur Ruhe gebracht hat, das ist in dem Menschen noch nicht zu demselben Ziele gelangt. Im Menschen ist der Astralleib noch wogend. Was sich im Laufe der Jahrmillionen im Kosmos bereits vollzogen hat, was am Ziele angelangt ist, das ist in dem Menschen noch im Werden. Und wenn wir den Menschen von Wiederkunft zu Wiederkunft, von Wiederverkörperung zu Wiederverkörperung verfolgen, wenn wir ihn in seinen verschiedenen Leibern sehen und ihn dann in seinen Astralkörpern verfolgen, dann sehen wir, dass von Verkörperung zu Verkörperung der Astralkörper heller und reiner wird. Im Anfange sehen wir ihn durchzogen von dumpfen Leidenschaften. Diese erinnern an die Leidenschaften jener Zeit, als die Welt noch ein Chaos war. Aber nach und nach entwickelte sich jene Helle und Klarheit, wie sie der Astralkörper des großen Weltenalls jetzt hat.

Weil die Weisen der uralten Zeiten den Zusammenhang zwischen dem Werden des Menschen und dem Sein der Welt gekannt haben, deshalb haben sie die Welt Makrokosmos und den Menschen Mikrokosmos genannt. Hinblicken muss der Mensch auf das Ziel, das er sich vorsetzen kann. So wenig wie der Makrokosmos in mir Seligkeit dadurch bewirkt, dass er mich mit derselben Seligkeit und Ruhe durchdringt, wie das Weltengesetz heute den Kosmos durchflutet, so wenig wird man einst bei mir fragen können, ob mein Schicksal übereinstimmt mit meinem Gesetz. Reines Gesetz ist das Kosmosgesetz, und reines Gesetz, reiner Menschengeist, soll einst des Menschen Schicksal werden. Das ist der Weg des Schicksals, welches der Menschengeist in seinen verschiedenen Verkörperungen durchmacht. Immer sternenglänzender und immer ähnlicher dem Schicksal des Kosmos werden wir.

Karma ist ein Gesetz, unter dem wir alle leiden. Was wir in einer Verkörperung vollbracht haben, trägt uns seine Früchte in den späteren Verkörperungen. Was uns heute zuteilwird, haben wir verursacht in den früheren Verkörperungen. Aber Karma ist ein Gesetz, das nicht nur Schuld und Sühne, Disharmonie und Harmonie in richtiger Weise verteilt, sondern ein Gesetz, das uns hinaufleitet zum höchsten Gipfel des Menschengeistes. Das große Weltenbuch von Karma wird auf der linken und auf der rechten Seite seinen Ausgleich gefunden haben. Alles, was wir dem Leben schuldig geworden sind, werden wir wieder verwandelt haben in die helle Lichtglut des Astralkörpers. Alles, was wir als Mängel empfunden haben, wird ausgeglichen sein. Karma ist verbrannt. Wenn die Schuldpunkte des Daseins nicht mehr vorhanden sein werden, wenn wir selbst unseren Weg gehen wie die Sonne, die nicht vermögend ist, auch nur eine Linie aus der Bahn herauszutreten, dann werden wir auch unseren eingepflanzten Gesetzen folgen wie die Sonne am Sternenhimmel. Das ist unser Weg, das ist unser Ziel. Das wird einstmals die Harmonie sein zwischen dem Menschenschicksal und den Weltengesetzen.

Nicht bei allen Menschen verläuft dieser Gang durch die Lebenspilgerschaft in der gleichen Weise. Genau ebenso wie in der äußeren Natur das Vollkommene neben dem Unvollkommenen ist, wie der Wurm neben dem höheren Tier heute schon vorhanden ist, so ist auch in der geistigen Welt der unvollkommene Menschengeist neben demjenigen, der schon eine höhere Stufe erreicht hat.

Wer ehrlich und aufrecht an die Entwicklung glaubt, muss auch Glauben an die Geisteswissenschaft und deren Lehren von den Menschenerstlingen haben.

Das sind solche, welche auf der Bahn, die wir alle zu durchlaufen haben, schon ein weiteres Stück zurückgelegt haben als wir heute. Einzelne sind vorausgeeilt.

Sie haben uns von den Zeiten ab, von denen uns die Geschichte berichtet, überholt, sie haben eine höhere Stufe der Menschheitsentwicklung erreicht. Dadurch sind sie Führer, Leiter der Menschheit geworden. So wie das höher entwickelte Tier über dem Wurm emporragt, so ragen die Rishis, die Meister, über die Menschheit empor. Sie haben dies in den früheren Zeiten erreicht, weil sie einen anderen Weg der Erkenntnis eingeschlagen haben, einen steileren, einen gefährlicheren Weg, der mit unendlicher Gefahr verbunden ist. Niemand darf ihn um seiner selbst willen betreten. Wer dies tut, kann straucheln und in tiefe Abgründe fallen oder sein Dasein für eine Zeit verlieren oder zum Quälgeist der Menschen werden. Kurz, niemand darf aus Selbstsucht, aus Egoismus diesen Pfad der schnelleren Erkenntnis aufsuchen.

Nur derjenige, welcher gelobt, den Mächten gelobt, von denen der gewöhnliche Mensch keine Ahnung hat, mit einem Schwur, der niemals gebrochen werden darf, nur derjenige, welcher dieses Gelübde abgelegt hat, kann den Pfad betreten, um ein Führer der Menschheit zu sein, ein Erstling der Menschheit. Solche Führer der Menschen haben ihre Erkenntnis niemals für sich selber gebraucht.

Dasjenige, was man im Abendlande so hoch schätzt, das Wissen um des Wissens willen, ist nicht dasjenige, was die Adepten, die großen Meister des Wissens, anstreben. Sie streben das Wissen an, um der Menschheit zu helfen, um sie hin- aufzuziehen dahin, wo Menschenschicksal und Weltenharmonie in Einklang mit- einander stehen. Diese Menschenerstlinge sind es, die in unserer Mitte leben und schon zu allen Zeiten gelebt haben, die sich einen von Begierden und Leidenschaften gereinigten Astralleib erworben haben. So hat ihn schon Buddha mit seinem Schüler Ananda gehabt, den sternenglänzenden Astralleib. Als sie einmal hinausgingen, löste sich Buddha in eine lichte Wolke auf, in eine Lichtwolke, in strahlendes Licht. Das war der zur Ruhe gekommene Astralkörper.

Die Strahlenkrone ist nichts anderes als das Symbol des strahlenden Astralkörpers des Gründers des Christentums. Die Menschenerstlinge sind als wandelnde Menschenbrüder ein unmittelbares Abbild des Makrokosmos. Es sollte gezeigt wer- den, dass sie ihr Karma verbrannt hatten, dass nichts mehr zu tilgen ist, dass die urewige Weisheit nicht mehr abirren kann, dass sie sicher die Menschheit leiten, so sicher, wie die Sonne ihre Bahn geht über das Himmelsgewölbe, und wie sie nicht abirren kann von dieser am Firmament vorgezeichneten Bahn. Das ist das Symbol für die Menschenerstlinge. Es bringt zum Ausdruck, dass sie nicht abirren können von der Bahn, die den Menschen vorgezeichnet ist. Sicher, wie die Sonne über das Himmelsgewölbe wandelt, wandeln sie ihren Weg. Und so wie die Sonne ihr Licht und ihre Wärme über die Erde hin sendet, so senden sie die Liebe ihres Herzens in die Herzen der Menschen, Liebe erweckend in den Herzen ihrer Mitbrüder.

Diese Erstlinge senden ihre Kräfte aus gegenüber allen Versuchungen. Man kann ihnen zeigen, man kann ihnen anbieten alle Reiche der Herrlichkeit dieser Welt, sie nehmen sie nicht hin, sie wollen einzig und allein eins sein mit dem Urgeist, von dem sie ausgegangen sind. So wollen diese Menschen in diesem Leben ein Makrokosmos selbst sein. Das war ihr Bewusstsein.

Es ist dies auch in allen Religionen vorhanden. Diejenigen, welche die Quellen der Religion kennen, wissen, dass es in all diesen Religionen liegt, zu den Stiftern der Religionen aufzuschauen wie zu den Sternen des Makrokosmos, wie zu dem urewigen Weltengesetz, das den Sternenhimmel beherrscht. Sonnen waren diese Erstlinge der Menschheit für die Eingeweihten und die weiter Vorgeschrittenen.

Wenn der Menschheit gezeigt werden sollte, wie das Karma verläuft, dann wurde ihnen das Abbild der Sonne im Tempel gezeigt. Dieselbe bedeutet dem Menschen das Schicksal, wie der Gang der Sonne im Weltenlauf. [A-mi-t‘o] war dasselbe für die Chinesen, als sie den Buddha verehrten, als den Sohn unter ihren Himmelsgöttern.

Und es war dasselbe für die Hindus, wenn sie den Krishna ruhend in den Armen der Deva-Mutter zeigten. Das Weihnachtsfest geht durch alle Religionen hindurch. Es ist das Fest, das dem Menschen zum Bewusstsein bringen sollte, dass sein Schicksal einst ein Abbild des Schicksals des Makrokosmos sein soll.

Im Christentum war ebenso eine Geistessonne wie in den alten Religionen. Auch im Leben des Christus sollte sich unmittelbar ein Abbild der über das Firmament hineilenden Sonne darlegen. Sein Geburtsfest wurde daher in das Weihnachtsfest verlegt. Fragen wir uns, warum? Was geschieht mit der Sonne zur Zeit der Wintersonnenwende, zur Zeit des Weihnachtsfestes? Da werden die Tage wieder länger, nachdem der kürzeste Tag vorüber ist. Das Licht ringt sich wieder heraus aus dem Dunkel. Die Sonne, welche den größten Teil des Tages in Dunkelheit gewesen ist, wird neu geboren und als solche neu geborene Sonne sendet sie jetzt ihr Licht. Die Geburt des Lichtes wurde um Mitternacht gefeiert, weil aus der Dunkelheit heraus das Licht geboren wurde. So soll symbolisch das Licht der Weisheit geboren werden, das dargestellt wird durch die Menschenerstlinge. Die Sonne erscheint wieder von neuem, sie, die hinzieht über das Firmament. Mit ihrer Geburt ist sie ein Symbol für den geboren werdenden Menschenerstling, der ebenso sicher auf seiner Erstlingsbahn hin wandelt und wie das Weltenall die Harmonie in sich trägt.

Verschiedene christliche Sekten hat es anfangs gegeben, und von ihnen wurde das Fest des Heilandes zu verschiedenen Zeiten gefeiert. 135 solcher Tage gab es in den ersten christlichen Zeiten. Erst im Anfang des 5. Jahrhunderts setzte man ein einheitliches Datum fest, nämlich unser heutiges Weihnachtsfest. Man hat es mit Bewusstsein auf diesen Tag gelegt, um dieselbe Symbolik, welche die ganze alte Welt durchtönt hat, auch für dieses christliche Fest festzulegen. Ein Kirchenvater selbst, der von der Kirche heiliggesprochen war, hat es als berechtigt und im Sinne des Christentums betrachtet. Er erzählt uns, dass die Christen recht getan haben, dass sie in der Zeit, in der die Römer die Geburt des Mithras, die Griechen die Geburt des Dionysos feierten, das Christfest, also die Geburt des Christus, begehen. Es sollte dem Feste der gleiche Sinn unterlegt werden wie für das Mithras-Fest und das Dionysos-Fest, denn auch in ihnen wurde die Geburt der Erstlinge gefeiert.

So hat das Christentum in dem Weihnachtsfest ein Symbol aufgerichtet, welches den Menschen immer wieder zum Bewusstsein bringen soll, dass das Karma verbrannt werden muss, damit Harmonie zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, die heute noch nicht vorhanden ist, einst vorhanden sein wird, damit auch der Mensch einst den unwandelbaren Gesetzen folgt, von denen er nicht abirren darf.

So wie Horus, der Sohn der Isis und des Osiris, das Symbol des Menschendaseins und des Menschenzieles, in der Mitternacht der versammelten Menge gezeigt wurde, und so wie hingewiesen wurde von den Priestern, dass er die Sonne im geistigen Reiche sei, dass er gleich sei der Kraft der Wärme und des Lichtes der Sonne, so wie sich die drei weisen Opferpriester freudig geneigt haben, so stellt uns auch die christliche Legende dar, wie sich die drei Weisen neigen vor dem Christuskinde. Dem Stern, dem Lichte folgen sie.

Ein tiefer Sinn liegt in dem Besuche der drei Weisen aus dem Morgenlande. Es sind dieselben drei Weisen, die beim Horusdienste tätig gewesen sind und die nun sagen: Uns ist einer geboren, der so unwandelbar seinen Weg gehen wird wie der Stern, der uns jetzt führt. Weit ist noch der Stern von uns. Wenn aber einst dieses Gesetz unser eigen sein wird, dann werden wir gleich dem sein, der das unwandelbare Gesetz in sich trägt. Wie der Stern unser Ideal ist, so ist der, welcher darin geboren ist, unser Vorbild. Was die Ägypter da gefeiert hatten, das wurde zur Weltentatsache, zum Weltereignis. Deshalb durfte der, welcher das Christentum gegründet hat, seine Jünger zusammenrufen zu der Bergpredigt. Es heißt deshalb: “Er führte sie hinweg von dem Volke, auf den Berg.” “Berg” bedeutet die Geheimstätte, wo die engeren Vertrauten belehrt wurden. Die deutsche Bibelübersetzung enthält an dieser Stelle einen ungeheuren Irrtum. In Wahrheit heißt es: “Selig sind, die da Bettler sind um Geist, denn sie finden in sich selbst die Reiche der Himmel.” Zu was wollte sie Jesus machen? Er wollte sie selig machen, die Bettler um Geist. Nur diejenigen, welche hineingeführt wurden in die Tempelgeheimnisse, waren der Weisheit teilhaftig geworden. Hinaustragen wollte der Stifter des Christentums diese Weisheit in alle Welt. Nicht nur die Reichen des Geistes sollten die Gnade der Weisheit empfangen, – nein, alle, die da draußen stehen und auch Bettler sind um Geist, sie sollen in sich finden die Reiche der Himmel.

Sie haben das in den Tempelgeheimnissen gefunden. Nicht nur drinnen in den Tempelstätten sollten sie jetzt die Seligkeit finden, sondern sie sollten die Reiche der Himmel, die ihnen als das harmonische Vorbild des Menschenschicksals vorgestellt wurden, in sich selbst finden, sie sollten hinaufschreiten zu dem Gipfel, wo ein Ausgleich zwischen dem wandelbaren irrenden Menschenherzen und dem unwandelbaren Gesetze des Makrokosmos stattfinden kann. Das sollen die Weihnachtsglocken, nach dem ursprünglichen Willen der Eingeweihten, den Menschen zum Bewusstsein bringen. Sie sind ein Hinweis auf das, was uns zeigt, wie Karma zum Ziele führt, wie Weltengesetz und Schicksal zusammenhängen. Und das wieder zu hören, soll uns unter anderem auch die theosophische Vertiefung bringen. Manche Feste, die wir heute gedankenlos feiern, deren tiefere Bedeutung wir nicht kennen, haben einer tieferen Weisheit ihren Ursprung zu danken. Weil der alte Mensch verbunden war mit der Welt, deshalb waren ihm die Festesereignisse Zeichen. Das Mysterium des Herzens und des unwandelbaren Gesetzes ertönt uns aus den Klängen der Weihnachtsglocken. Die Theosophie wird in das unmittelbarste Leben die tiefere Weisheit, den Kern der Religionsbekenntnisse wieder bringen. Sie wird zeigen, inwiefern sie Wahrheit enthalten, und wenn wir diese wiedererkennen, dann wird im höchsten Sinne das allmählich in Erfüllung gehen, was ausgedrückt ist an Harmonie zwischen Weltgesetz und Menschenschicksal durch das schöne Wort: Friede sei mit allen Wesen!