Joseph Nolen – Liebe

Liebe

Joseph Nolen (1995)

Joseph_NolenDer Adept, Kabbalist und Okkulist Joseph Nolen, welcher 12 Jahre lang mit Ann Davies zusammenarbeitete, bringt in dieser Schrift zum Ausdruck, wie wichtig die harmonische Entwicklung von Gnade und Strenge sei. Diese wird im Lebensbaum, eines der wichtigsten Symbole der Kabbalah, durch Chesed und Geburah repräsentiert. Ebenso wichtig sei es auch für das „Lieben“ sich der Persönlichkeitsmuster des „Geliebten“ und auch seiner eigenen Persönlichkeitsmuster bewusst zu werden, ohne sich jedoch damit zu identifizieren. Dies wird durch ein Werkzeug der Kabbalah, dem Tarot, ermöglicht.

 

Alle Westlichen Religionen befehlen uns, Gott und den Nächsten zu lieben wie uns selbst. Es wird uns auch befohlen, Gott zu fürchten. Wie können wir etwas lieben, das wir fürchten? Furcht ruft Hass hervor! Als ich ein kleiner Junge war, fragte uns unser Lehrer in der Sonntagsschule bei jedem Treffen, ob wir Gott liebten. „Oh ja“, war die beständige Antwort, die die Zustimmung des Lehrers fand. Zur Gottheit: Dankbarkeit, Ehrfurcht, Anbetung, Ärger und Furcht, unsere normalen Gefühle gegenüber dem allwissenden Einen sind nicht die der Liebe.

Wenn wir jemanden lieben, fühlen wir uns eins mit dem Geliebten, und wir sind bereit, falls nötig mit liebender Sorge zu reagieren. Dieses Gefühl ist völlig spontan und bedingungslos, wenn es echt ist, wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Das bedeutet jedoch nicht bedingungslose Billigung aller Handlungen des Geliebten, wie viele denken. Liebe sucht das Wohlergehen des Geliebten in allen Dingen und kann streng sein, wenn es sein muss. Es wird gesagt, dass „Liebe sich niederlässt, wo sie will“, d.h., dass sie nicht durch einen persönlichen Willensakt existiert, nicht etwas ist, das wir anordnen, obwohl wir wünschen würden, dass wir das könnten. Ich denke nicht, dass er/sie wirklich Liebe empfinden oder ausdrücken kann, bis er/sie in der Lage ist, sich mit jemanden oder einer Idee eins zu fühlen.

Liebe ist eine Ausdrucksform der Seele und nicht der Persönlichkeit.

Ich lebte eine Zeitlang unter ziemlich einfachen Menschen, und sie lachten über die Schmerzen, die sie Tieren zufügten. Trotzdem waren sie sehr sanft mit ihren Familienmitgliedern, die einzigen anderen Lebensformen, mit denen sie sich identifizierten. Das ließ mich erkennen, dass ein Getrenntheitsempfinden der einzige Zustand ist, in dem es für uns möglich ist, andere zu peinigen, denn die bewusste Einheit, die synonym mit Liebe ist, sagt: „Dein Schmerz ist mein Schmerz.“ Der große indische Adept Ramakrishna sagte einmal über einen seiner Schüler, der wegen seiner lockeren, gefühllosen Haltung gegenüber anderen kritisiert worden war: „Er hat bis jetzt den Schrei des Weltschmerzes nicht gehört!“ Derselbe Schüler initiierte später auf einem Theosophischen Weltkongress einen wachrüttelnden Ruf nach Einheit.

Wir lernen, wie es sich anfühlt zu lieben, hauptsächlich durch unsere Partner, unsere Kinder und dann unsere erweiterte Familie und unsere „Sippe“, die Gruppen, mit denen wir uns identifizieren können. Auf dem Pfad wird diese ausschließende Liebe allmählich dahingehend erweitert, dass sie alle Lebewesen einschließt, aber das ist eine Bedingung des Wachstums, der Erweiterung der bewussten Wahrnehmung, nicht des persönlichen Willensaktes. Es gibt viel Zur-Schau-Stellung, wenn man Andere zu lieben scheint, dabei wäre eine Haltung des einfachen Respekts vor den unveräußerlichen Rechten Anderer als menschliche Wesen dem näher, zu dem wir konstruktiv fähig sind, als ein wirklicher Ausdruck der Liebe. Liebe hat jedoch viele Stufen, und der Respekt vor unseren beiderseitigen Rechten ist sicher ein Ausdruck des höchsten kabbalistischen Niveaus, dem uranfänglichen Willen-zum-Guten.

Wenn die bewusste Wahrnehmung auf dem Pfad zunimmt, wird der Innere Lehrer zu einer sehr realen Präsenz, der die innersten Wünsche des Geistes weise entfaltet. So wird das Fundament für die Liebe Gottes begründet. Das wachsende Bewusstsein dafür, dass wir die allgemeinen menschlichen Vorlieben und Probleme miteinander teilen, ist die Basis, um unsere Mitmenschen zu lieben. „Ich liebe nur für die Liebe Gottes.“ Das kommt durch eine schnelle empathische Reaktion auf die Bedürfnisse Anderer zum Ausdruck. Es scheint, als ob das Erkennen unserer eigenen negativen Muster unsere Fähigkeit, mit anderen zu fühlen und sie nicht für ähnliche Ausdrucksformen zu verdammen, vergrößert.

In einem Gespräch, das ich einmal mit der Adeptin Ann Davies hatte, sagte sie, dass Adeptentum etwas sei, das auf Anforderung zum Ausdruck gebracht werden konnte, sobald diese Reaktionsebene unter bestimmten Umständen nötig wäre. Es war einfach Liebe, von einem evolutionäreren Standpunkt aus zum Ausdruck gebracht, welche Schritte einbeziehen konnte, die für den Empfänger manchmal unbequem waren. Sonst war sie einfach nur Ann Davies.

Liebe ist dasselbe, eine entwickelte Fähigkeit für eine nährende Reaktion, wann immer das Bedürfnis entsteht. Normalerweise beziehen sich unsere Sorgen auf unsere eigenen Probleme, und die Liebesreaktion bleibt solange latent, bis ein Bedürfnis gefühlt wird. Die durch Liebe zum Ausdruck gebrachte Ebene der Weisheit variiert je nach Individuum und in einem unerweckten Menschen reagiert sie im Normalfall nur auf die Kurzzeitbedürfnisse des Geliebten, um die Harmonie wieder herzustellen. Auch das Unterscheidungsvermögen bezüglich der Menge und der Qualität der gewährten Liebe muss zum Ausdruck gebracht werden, so dass der Empfänger dadurch nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Ausdrucksformen des Adeptentums würden wahrscheinlich ein größeres Bedürfnisspektrum abdecken, von sofortigen persönlichen Bedürfnissen nach Unterstützung und Nährung bis hin zur evolutionären Langzeitstimulation geistiger Bestrebungen.

Es gibt einen Aspekt des Liebesprinzips, nach dem viele Menschen, die versuchen, Liebe zum Ausdruck zu bringen, handeln, den sie aber nicht verstehen, besonders in den esoterischen Orden. Einige Schüler denken, dass wir, um Liebe richtig zum Ausdruck bringen zu können, alle negativen Persönlichkeitsmerkmale an Anderen ignorieren und sie nur als Söhne und Töchter des Einen sehen müssen. Wir ignorieren die Realität dessen, was Andere zum Ausdruck bringen, auf unsere Gefahr, tatsächlich wäre eine derartige Haltung nicht förderlich für unser gesundes Wachstum und auch sehr unausgewogen. Die Strenge von Geburah muss Teil des Liebens sein, um gesund zu wirken, in der Lage sein, zu den selbstzerstörerischen Mustern „nein“ zu sagen. Wenn wir uns damit beschäftigen, geliebt zu werden, gerät Geburah bei unseren Handlungen normalerweise in Vergessenheit und Chesed wird schwach, da beide für die Ausdrucksformen frei verfügbar sein müssen, um wirklich effektiv zu sein. Geburah ist der Stahl unter dem Samthandschuh von Chesed, ohne den der Handschuh zusammenklappen würde. Geburah bringt ein Sich-Sorgen für das evolutionäre Wohlsein der Geliebten zum Ausdruck und ihre saturnische Begrenzungskraft produziert gesundes Wachstum, wenn sie durch das Ausdehnungsvermögen Cheseds ausgeglichen wird.

Auf unserer täglichen Reise ist es für uns notwendig, uns der Persönlichkeitsmuster jener, mit denen wir interagieren, bewusst zu sein und sie einzuschätzen aber nicht zu verdammen. Obwohl jeder Gott in Seiner Ausdrucksform durch den Menschen ist, kann sein menschlicher Ausdruck einige ziemlich destruktive Formen annehmen. Eine Mutter, die den Hang ihres Kindes, mit Streichhölzern zu spielen, nicht erkennt, geht ein Risiko ein. Die Liebe zu ihrem Kind wird durch die bewusste Wahrnehmung nicht vermindert, ihre Aufmerksamkeit aber nimmt zu. „Das quietschende Rad wird geölt.“ Die Bedürfnisse des Lebens bestimmen die Reaktion des Lebens. Das Verlangen nach der Realität öffnet die Tür der Befreiung.

Der interessante Teil dieser Diskussion, die ich mit mir selbst führe, ist die Erkenntnis, dass wir uns selbst gegenüber mit derselben zweigeteilten Sicht handeln müssen. Wir müssen uns selbst als das Selbst sehen, uns aber auch unserer Muster bewusst sein, uns jedoch nicht mit ihnen identifizieren. Solange wir uns mit den Mustern identifizieren, die wir zeitweise zum Ausdruck bringen, verdammen wir uns und andere. Wenn wir uns unserer Ausdrucksformen nicht bewusst sind, beherrschen sie uns! Wie sehr brauchen wir von uns die Vorstellung, dass wir uns auf dem Pfad konstruktiv vorwärts bewegen können? Durch den Humor, der mit dem Verstehen der Tatsache, dass der Zum-Ausdruck-Bringende nicht das ist, was zum Ausdruck gebracht wird, entsteht, steigen wir aus dem Morast der Selbst-Verdammung von Schlüssel 15 hervor.