Georges Gurdjieff – Echter Seins-Pflicht bewusst werden

Echter Seins-Pflicht bewusst werden

Georges Gurdjieff (1949)

Georges_Gurdjieff

Georges Gurdjieff war unter anderem Esoteriker, Psychiater und Schriftsteller, der sich mit bloßen Worten nicht zufrieden gab. In dieser Schrift, welche ein Ausschnitt des Werkes “Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel“ ist, betont er abermals, dass es die Pflicht des Menschen ist, den Egoismus zu überwinden, dem gemeinsamen unendlichen Welten-Schöpfer gute Dienste zu leisten und somit für ihr Entstehen und ihre Existenz zu dienen.

Nachdem der Kapitän gegangen war, betrachtete Beelzebub seinen Enkel, und da er dessen ungewöhnlichen Zustand bemerkte, fragte er ihn mit einiger Besorgnis: „Was hast du, mein teurer Junge? Vorüber denkst du so angestrengt nach?”

Hassin sah mit kummervollen Augen zu seinem Großvater auf und sagte nachdenklich: „Ich weiß nicht, mein teurer Großvater, was mit mir ist. Aber dein Gespräch mit dem Schiffskapitän hat mich auf sehr traurige Gedanken gebracht. Es denkt sich jetzt in mir, woran ich nie zuvor gedacht habe. Durch euer Gespräch ist mir allmählich sehr klar zum Bewusstsein gekommen, dass im Weltall unseres UNENDLICHEN nicht alles immer so war, wie ich es jetzt sehe und begreife. Früher zum Beispiel wäre ich nie auf solche Gedanken gekommen, wie dass das Schiff, auf dem wir hier fliegen, nicht immer so war wie in diesem Augenblick. Erst jetzt sehe ich klar ein, dass alles, was wir heutzutage haben und benutzen, mit einem Wort, alle modernen Annehmlichkeiten und alles, was unserer Bequemlichkeit und unserem Wohlsein dient, nicht immer existierte und nicht so einfach entstanden ist. Es scheint, dass einige Wesen der Vergangenheit sehr lange Zeit hindurch viel gearbeitet und gelitten haben und vieles ertrugen, was sie vielleicht nicht hätten zu ertragen brauchen. Sie mühten sich und litten, nur damit wir das alles hätten und es zu unserem Wohlergehen gebrauchten. Und all das taten sie, bewusst oder unbewusst, für uns, das heißt für Wesen, die ihnen gänzlich unbekannt und vollkommen gleichgültig waren. Jetzt aber danken wir es ihnen nicht nur nicht, sondern wissen sogar nicht das Geringste von ihnen und nehmen dies für selbstverständlich und denken weder darüber nach, noch sorgen wir uns darum. Nimm mich zum Beispiel: so viele Jahre habe ich schon im Weltall existiert, und doch kam mir noch nie der Gedanke in den Kopf, dass es vielleicht eine Zeit gab, wo all das, was ich sehe und habe, nicht da war, und dass all das nicht wie meine Nase mit mir zusammen geboren wurde. Jetzt aber, mein teurer, mein guter Großvater, jetzt, wo ich mir durch euer Gespräch mit dem Kapitän allmählich mit meinem ganzen, Bestand all dessen bewusst wurde, entstand gleichzeitig in mir das Bedürfnis, meiner Vernunft klarzumachen, wofür mir persönlich alle Bequemlichkeiten gegeben sind, die ich jetzt gebrauche, und welche Pflichten mir dafür auferlegt sind. Deswegen geht jetzt ein Reueprozess in mir vor.”

Nachdem Hassin dies gesagt hatte, senkte er den Kopf und verfiel in Schweigen. Beelzebub betrachtete ihn liebevoll und fing so zu sprechen an: „Ich rate dir, mein teurer Hassin, dir noch nicht solche Fragen zu stellen. Gedulde dich einstweilen. Erst wenn die richtige Periode deiner Existenz kommt, in der du dir einer solch wesentlichen Frage bewusst werden kannst und du dann aktiv darüber nachdenkst, wirst du begreifen, was du dafür zu leisten hast. Dein jetziges Alter verpflichtet dich noch nicht, für deine Existenz zu zahlen. Die Zeit deines jetzigen Alters ist dir nicht gegeben, um für deine Existenz zu zahlen, sondern um dich auf die Zukunft mit den Verpflichtungen, die einem verantwortlichen dreihirnigen Wesen zukommen, vorzubereiten. Inzwischen existiere, wie du existierst. Nur vergiss’ eines nicht: nämlich dass es für dich in deinem Alter unerlässlich notwendig ist, dass du jeden Tag bei Sonnenaufgang, dieweil du die ‘Widerspiegelung ihrer Pracht beobachtest, einen Kontakt zwischen deinem Bewusstsein und den verschiedenen unbewussten Teilen deines allgemeinen Bestandes herstellst. Versuche diesen Zustand andauern zu lassen und die unbewussten Teile deines allgemeinen Bestandes zu überzeugen, so als ob sie bewusst wären, dass wenn sie dein allgemeines Funktionieren hindern, sie in der Periode deines verantwortlichen Alters nicht nur nicht imstande sein werden, das Gute zu leisten, wie es ihnen zukommt, sondern dass dein allgemeiner Bestand, von dem sie ein Teil sind, dann nicht fähig sein wird, unserm gemeinsamen UNENDLICHEN SCHÖPFER gute Dienste zu leisten und somit noch nicht einmal wert, für dein Entstehen und deine Existenz zu zahlen. Ich wiederhole nochmals, mein teurer Knabe: versuche einstweilen nicht, über solche Dinge nachzudenken, die es für dich zu denken noch zu früh ist. Alles zu seiner Zeit. Jetzt frage mich, worüber du willst, und ich erzähle dir. Da der Kapitän bis jetzt noch nicht zurückgekommen ist, muss er wohl mit seinen Pflichten beschäftigt sein und wird nicht sobald zurückkehren.“