Teil 3.2

Die Stimmungen des Toten

Sohn der Edlen, da du einen so beschaffenen Leib hast, wird es wie im Traum zugehen, wenn du deine Landsleute und Verwandten triffst: Obwohl du deine Freunde und Verwandten mit Worten ansprichst, werden sie keine Antwort geben, und weil du deine Freunde und Verwandten weinen siehst, wirst du denken: Ich bin tot, was soll ich nur tun? und dabei so sehr leiden, wie ein Fisch, der auf heißem Sand geröstet wird. Es hat aber keinen Sinn, dass du dich darüber so grämst. Hast du einen Lama, dann flehe ihn an oder deinen göttlichen Yi-dam oder den Herrn des Großen Mitleids (Avalokiteshvara). Da es keinen Sinn hat, dich nach deinen Verwandten zu sehnen, so verlange nicht danach. Wenn du den Herrn des Großen Mitleids (Avalokiteshvara) anflehst, dann werden weder Leid noch Schreckensbilder dich ängstigen.

Sohn der Edlen, da deine Geist-Natur von dem unsteten Wind deines Karma angetrieben wird, ist sie ihrer selbst nicht mehr sicher ohne Stütze und wird wie eine Feder vom Wind hinweggetragen und reitet dennoch wirbelnd und taumelnd das Pferd des Odems. Zu den Weinenden wirst du sagen: Ich bin doch hier, weint nicht! Aber da sie dich nicht hören, wirst du denken: Ich bin tot! Und so kommt großes Leid über dich. Solches Leid füge dir daher nicht zu! Tag und Nacht wird ein graues Etwas, wie das graue Licht des Herbstes, immer da sein, so werden die Tage des Zwischenzustands, der ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben Wochen usw. bis zu neunundvierzig Tagen dauern kann, sein. Für gewöhnlich heißt es, dass die Leiden des Zwischenzustands des Werdens bis zu einundzwanzig Tagen andauern können, obschon dies nicht bestimmt ist, denn es hängt von der Macht des Karma ab.

Sohn der Edlen, zu dieser Zeit wird der Sturm deines Karma, rot und bedrohend, äußerst schrecklich sein, und er wird bis zur Unerträglichkeit wüten und dich von hinten anpacken. Davor fürchte dich nicht, es ist eine trügerische Erscheinung deiner selbst. Eine ganz furchtbare, große Dunkelheit, die unerträglich ist, geht dir voraus. Verschiedenes, schreckliches Geschrei ertönt, wie: Schlage, töte!
Davor fürchte dich nicht! Aber denen, die stark verblendet sind, werden die fleischfressenden Dämonen ihrer eigenen Taten, verschiedene Waffen schwingend, unter großem Gedröhne und Kriegsgeschrei wie: Tötet, tötet! Schlagt, schlagt! erscheinen. Und dir wird vorkommen, als ob verschiedene, furchterregende Bestien hinter dir herjagten, als ob Schnee und Regen, Schneestürme und Finsternis zusammen mit vielen Kriegern dich verfolgten. Die Geräusche berstender Berge, überströmender Seen und um sich greifenden Feuers, zusammen mit dem Heulen des Sturmes werden entstehen, und aus Angst davor wirst du blindlings fliehen. Vor dir schneiden jedoch drei Abgründe dir den Weg ab. Sie sind weiß, rot und schwarz; tiefgähnend und furchterregend werden sie Stücke aus dir machen.

Sohn der Edlen, in Wahrheit sind dies keine Abgründe, sondern die drei Verzerrungen: Hass, Begehren und Unwissen. Zu dieser Zeit musst du erkennen, dass du im Zwischenzustand des Werdens bist, und den Großen Mitleidsvollen mit seinem Namen anrufen: Herr des Großen Mitleids, mein Lama, ihr Drei Kostbarkeiten, mein Name ist N. N., lasst mich nicht in einen der üblen Lebensbereiche eintreten! So bete inständig und vergiss es nicht!
Ferner werden diejenigen, die Weisheit und Tugend gesammelt, das Gute getan und die Religion treulich geübt haben, von allerlei Arten vollkommenen Glücks eingeladen, da sie in verschiedener Weise die Mannigfaltigkeit vollkommenen Glücklichseins erfahren. Diejenigen, die weder etwas Gutes oder Böses getan haben, sondern in Gleichgültigkeit und Unwissen verharrten, die werden nichts an Bösem oder Gutem erfahren, sondern nur Gleichgültigkeit und Unwissen wird ihnen aufgehen.

Was immer aufsteigen mag, o Sohn der Edlen, seien es weltliche Güter und Genüsse oder Glück, so begehre und verlange nicht danach. Verehre deinen Lama und die Drei Kostbarkeiten! Die Begehrlichkeit des Geistes gib in deinem Denken, auf! Während dir weder Gutes noch Böses erscheint, steigt Gleichmut in dir auf; und deine Geist-Natur verharre ohne Konzentration und ohne Ablenkung im Wesen des Großen Siegels. Dies ist wichtig!

Sohn der Edlen, zu dieser Zeit wirst du dich bei Brücken, Tempeln und Klöstern, Grashütten, Stupas usw. aufhalten, aber du wirst nicht lange bleiben können, da deine Geist-Natur ohne Körper sich nicht niederlassen kann. Du fühlst dich bedrängt, verärgert, verprellt; dein Intellekt ist zerstreut, taumelnd und diffus. Zu dieser Zeit wirst du nur einen Gedanken haben: Ich bin tot, was soll ich nur tun? und während dir diese Gedanken bewusst werden, steigt dir ein starkes Mitleid mit dir selbst auf. Und so wirst du unendlich großes Leid erfahren.

Hänge dich nicht an einen Ort, da du doch wandern musst, vergegenwärtige dir dies! Tu nicht dies und das, sondern lass deinen Geist in völligem Gleichmut! Es wird die Zeit kommen, da du außer den dir im Totenopfer gewidmeten Speisen nichts zu essen hast und deine Freunde nicht mehr zuverlässig sind. Dies sind die Anzeichen dafür, dass du als Geist-Wesen im Zwischenzustand des Werdens umherirren musst. In diesem Augenblick werden sowohl Leid als auch Freude durch dein Karma bedingt. Da du in deinem eigenen Land umherschweifst, deine Nächsten und sogar deine eigene Leiche siehst, wirst du voll Leid denken: Nun bin ich tot! Danach verliert das Geist-Wesen seine Zuversicht; und du denkst, wäre es nicht geschickt, irgendeinen Körper zu erlangen? Und dir wird sein, als ob du überall umherwanderst auf der Suche nach einem Körper. Auch wenn du gar neunmal in die Leiche eingehen kannst, so wird sie im Winter einfrieren und im Sommer verfaulen, und zwar aufgrund der Dauer deines Aufenthalts im Zwischenzustand des Wahren Seins. Und wenn das nicht zutrifft, so werden deine Nächsten die Leiche verbrennen oder in der Erde vergraben oder den Vögeln und Raubtieren zum Fraße gegeben haben, so dass du nichts mehr zum Eingehen vorfindest. So bist du darüber ganz und gar nicht erfreut, sondern hast das Gefühl, als ob du zwischen Erde und Steinen eingezwängt würdest. Solches Leid erfährst du, weil du dich im Zwischenzustand des Werdens befindest. Auch weil du noch einen Körper suchst, wird dir nichts als Leid zuteil werden. Tue daher nichts, um nach einem Körper zu verlangen, verweile im Wesen dieses Nichtsuchens und sei ohne Zerstreuung!

So zur Einsicht verholfen, wird der Tote im Zwischenzustand die Befreiung erlangen.