01 Erstes Buch Die Prüfungen

Erstes Buch
DIE PRÜFUNGEN

Woldemar von Uxkull (1937)

Es war vor vielen tausend Jahren, in Ägypten.
Die Pyramiden waren noch nicht erbaut; die Sphinxe und Obelisken standen noch nicht. Nur die Palmen ragten stolz in die sonnendurchstrahlte Luft empor. Damals herrschte die göttliche Dynastie und pflegte in Memphis aus höheren Welten stammende Weisheitsschätze.

Aus dem Westen, von sehr, sehr ferne waren die Strahlenden gekommen. Weisheit und Wissen, Kunst und Können hatten sie mitgebracht, gerettet. Denn dank ihrer hellseherischen Begabung hatten sie festgestellt, dass ihr Heimatland von unterirdischen Gewässern unterspült wurde. Sie hatten gewusst, dass die Zeit nahe war, da der ganze Kontinent mitsamt seiner herrlichen Hauptstadt, der Stadt der goldenen Tore, durch Erdbeben erschüttert, in den Schoß berghoher Wellen versinken würde. Und sie waren ausgewandert.

Es war damals.

Ich sehe einen schlanken braunen Jüngling, nur mit schwarz und weiß gestreiftem Lendentuch bekleidet. Er arbeitet mit einigen Gefährten im Garten des heiligen Bezirkes. Er soll dem Wunsche seines Vaters gemäß Magier und Priester werden, und auch ihn selbst zieht es, hinter den Vorhang zu schauen. Ihm genügen die prachtvollen, allem Volke zugänglichen Gottesdienste nicht. Er will mehr. Unbewusst schlummert in seiner Seele der Wunsch, anzubeten, und er will wissen, wissen. Fragen steigen in seinem Innern auf, die er nicht beantworten kann.
Er wurde den Priestern empfohlen und wurde als Schüler, als Neophyt angenommen. Er wurde beschnitten und der Genuss von Fleisch, Fischen und Hülsenfrüchten wurde ihm verboten. Ein leichter Wein wurde ihm ausnahmsweise gestattet.

Jeden Morgen sitzt er stumm und ernst unter seinen Gefährten mit untergeschlagenen Beinen auf der großen, gen Sonnenaufgang gerichteten Terrasse. Er hat die Meditationsübungen zu machen: während einer bestimmten Zeit darf er keinen Gedanken in sich aufkommen lassen: er soll an nichts denken, er soll lernen, über Gedanken und Gefühle zu herrschen.

Nach einem leichten Imbiss, aus Gemüse und Früchten, arbeitet er: er weiß, dass die Priester ihn sehen und beobachten, auch ohne dass er sie sieht, denn sie verfügen über wunderbare, ihm unverständliche Kenntnisse und Fähigkeiten. Er weiß aber auch, dass sie Menschen sind, wie er, dass sie geübt, gelernt haben und zuletzt durch etwas Schreckliches gegangen sind und nun vieles können, vieles wissen und über alles schweigen. Wozu sie aber gekommen sind, dazu will und wird er auch gelangen.

Gegen Mittag muss er täglich mit seinen Gefährten in die große Halle. Riesige, mit Hieroglyphen geschmückte Säulen tragen ein Dach. Gedämpftes ruhiges Licht erfüllt den gewaltigen Raum. An den Wänden 22 große in rot, braun, schwarz und weiß gemalte Bilder. Eigenartig geheimnisvoll. Elf auf jeder Seite. Hier haben sie zwei volle Stunden schweigend zu weilen. Sie haben die Bilder zu betrachten. Sie sollen sie sich einprägen. Und er schaut auf die Bilder stundenlang, Monate, Jahre hindurch. Er kennt jede Einzelheit an ihnen, sie reden, aber er versteht ihre Sprache nicht. Er sieht Priester, Könige, Jungfrauen, er möchte in den Sinn der Bilder eindringen, verstehen, aber ihm fehlt der Schlüssel.

In den Gärten arbeiten auch Sklaven, ältere und jüngere Männer, die nie den Tempelbezirk verlassen dürfen. Die Jünglinge, die sich vorbereiten, die Weihen zu empfangen, dürfen keine Gemeinschaft mit ihnen haben, dürfen sich ihnen nicht nähern. Aber einer raunt es dem anderen zu, abends, wenn sie auf ihren Matten liegen. Jene Sklaven hätten auch Priester werden wollen, sie hätten aber das Schreckliche, jene Prüfungen nicht bestanden und seien deswegen Sklaven. Die Jünglinge erschauern.

Einmal im Jahr hat er sich dem Oberpriester zu zeigen. Der ist ein Könnender. Er ist Seher. Er kann sehen, was in der Ferne geschieht, er kann sehen, was im Innern des Menschen vorgeht. Er sieht Gedanken, Stimmungen und die Reife der Seele. Viermal war der Jüngling vor dem Oberpriester erschienen. Jedes Mal hatte er ihn schweigend, durchbohrend angeblickt, aber ein Wink mit der Hand und er hatte sich zu entfernen und wiederum verging ein Jahr. Meditation bei Sonnenaufgang. Stummes Betrachten der Wandgemälde. Von den Bildern strömt es leise auf ihn ein. Er fühlt es, in seinem Unterbewusstsein steht er unter dem Einfluss dieser eigenartigen geheimnisvollen Gemälde. Und jeden Tag arbeitet er in den Gärten des Tempelbezirkes. Des Abends aber versammeln sich die Neophyten in der Bibliothek des Tempels, und ein Priester liest ihnen aus alten Papyrusrollen und Holztafeln Worte der Weisheit und Kenntnis vor, Worte zum Nachdenken, die immer tiefer werden je mehr man in sie hinabsteigt. Sie werden angewiesen, den Worten der Lehrer, der Priester mit Ehrfurcht zu lauschen und sich keine Kritik zu erlauben. Sie haben über ihre Gedanken und Gefühle zu herrschen und nur das zu fühlen und zu denken, was sie selber wollen. Sie lernen es, das Leben und Sterben in der Natur zu beobachten und mitzufühlen, als ob sie eins seien mit der blühenden Blume und dem absterbenden Baum. Sie lernen jedoch nicht nur, in das Leben der Pflanzen einzudringen und an ihm teilzunehmen, auch das Tierreich sollte keine Geheimnisse für sie haben; sie hören dem Klagerufen und Liebeswerben, den zornigen und hungrigen Tönen der Tiere zu und fühlen mit ihnen. Sie lernen es, mit allem Lebenden zu leben und zu leiden. In ihren Gebeten danken sie der Gottheit für alles Gute, für jede Gabe und vermeiden es, irgendeinem Wesen, das eine Seele hat, Leiden zu bereiten oder Schmerzen zuzufügen. Das war einer der Gründe, weshalb sie auf Fleischnahrung verzichteten.

Dann, als sich der Jüngling zum fünften Male vorstellte, schickte der Oberpriester ihn nicht fort, er senkte den Kopf: „Du kannst nun die Weihe empfangen, mein Sohn, und hinter den Vorhang schauen. Aber wir, die Priester, müssen dich erst den Prüfungen unterwerfen. Sie sind schwer und schrecklich, aber nötig, denn nur der ist wert die Geheimnisse der Himmel zu schauen, der Mut und Willen hat und der zu schweigen versteht. Zu wissen, zu wagen, zu schweigen – das sind die Stufen, die zur Vollkommenheit führen. Darum muss ich dich fragen, willst du dich den Prüfungen unterziehen? Ich überrede dich nicht. Noch bist du frei, noch kannst du zurücktreten und den Tempelbezirk verlassen. Wähle nach der Eingebung deines Herzens.“

Ernst und leise kam die Antwort: „Ich will!“

„So gehe zurück an deine Arbeit.“

Schweigend verließ der Jüngling mit tiefer Verbeugung die Zelle des Oberpriesters. Er wurde angewiesen drei Tage zu fasten, bei Wasser und Brot. Am Abend des dritten Tages wurde er von einem Priester in einen Teil des Tempelkomplexes geführt, der bisher für ihn unzugänglich gewesen war. Sie durchschritten mehrere Hallen, die allmählich enger, niedriger wurden und beim Besucher ein Gefühl geheimnisvoller Beklemmung wachriefen. In einem langen, schmalen, niedrigen Raum waren viele Priester versammelt. Am Ende der Halle war ein hoher eherner Altar. Zu beiden Seiten des Raumes brannten Kohlenbecken mit stark duftendem Rauchwerk auf hohen Gestellen.

Der Jüngling stand ergriffen und schüchtern da.

Der Oberpriester trat an ihn heran und fragte ihn wiederum, ob er sich der Prüfung unterziehen wolle.

Der Jüngling bejahte. Er wollte wissen, erkennen.

Da öffnete sich auf einen Wink des Oberpriesters der Altar. Seine Vorderwand bestand aus zwei Torflügeln, die sich in ihren Angeln drehten. Ein schwarzes Loch gähnte. Ein Priester gab dem Jüngling eine kleine brennende mit Öl gefüllte Lampe aus Ton in die Hand: „Habe acht auf deine Lampe und merke es dir, Wissen, Wollen, Wagen, Schweigen sind nicht nur die Stufen zur Vollkommenheit, sondern auch eine Richtschnur, die dich heute bewahren kann. Du weißt, dass dieser Weg zur Vollkommenheit führt. Du willst ihn gehen – nun sollst du wagen und schweigen. Vergiss es nicht: Wagen und schweigen. Und nun geh’, geh’.“

Der Jüngling machte einen Schritt in der Richtung zum Altar.

Da trat der Oberpriester noch einmal an ihn heran. „Bedenke es“, sprach er ernst, „noch bist du frei, noch kannst du umkehren, bist du aber in den Gang eingetreten, so öffnet sich das Tor nicht mehr. Noch nie hat jemand diesen Altar als Ausgang benützen können. Es ist nur ein Eingang, der Ausgang ist anderswo. Es harrt deiner Tod oder Sklavendienst, wenn du unterliegst, Wissen und Können, wenn Du siegst. Zum letzten Mal – was willst du?“

Der Jüngling sah dem Oberpriester ernst und ehrlich in die Augen: „Ich will die Prüfung bestehen.“

„So geh‘.“

Der Jüngling trat ein und sofort hörte er, wie hinter ihm die ehernen Tore sich in ihren Angeln drehten und ins Schloss fielen. Das Licht seiner Lampe mit der Hand schützend, schritt er vorsichtig in die vor ihm liegende Nacht hinein. Nach einiger Zeit stieß er mit der Stirn an den Felsen, er senkte den Kopf und sagte sich „vorwärts“. Doch bald stieß er wieder an und musste den Oberkörper beim Weitergehen beugen. Dunkelgraues Gestein umgab ihn von allen Seiten. Seine kleine Lampe erleuchtete nur schwach den allernächsten Umkreis. Die Felsen atmeten Kälte aus. Der an Afrikas Sonne gewohnte Jüngling fröstelte. Der Gang aber wurde niedriger, niedriger und schmäler. Der Jüngling musste sich beim Vorwärtsgehen immer tiefer beugen.
Er blieb stehen; hinter ihm, vor ihm Nacht, undurchdringliche Nacht. Es gibt kein Zurück. Vorwärts!

Nachdem er wieder einige Male ziemlich unsanft den Fels berührt hatte, obschon er ganz gebückt ging, entschloss er sich, sich auf seine Hände und Knie niederzulassen und sich so vorwärts zu bewegen. In der Rechten hielt er immer vorsichtig sein flackerndes Öllämpchen. Er wusste es wohl, seine Rettung, sein Heil waren seine Lampe und die Worte, die er sich oft wiederholte: Wagen, Schweigen.

Er kroch vorwärts. Es war mühsam mit der Lampe, und der Gang wurde enger und enger. Es kam ihm vor, als ob er in einem endlosen Sarg sei, als ob all das sich Vorwärtsbewegen vergeblich wäre, als ob er gar nicht von der Stelle käme, als ob nur die Wände dieses fürchterlichen Sarges sich immer mehr zusammenzögen. Da, er unterdrückte einen Schrei, er war wieder mit dem Kopfe an den Fels gestoßen. Er legte sich auf den Bauch und kroch so gut er konnte weiter. Er arbeitete sich mit Knien und Ellbogen vorwärts, wie eine Schlange, denn auf allen Vieren ging es nicht mehr. Eine furchtbare Angst, eine große seelische Beklemmung wollte sich seiner bemächtigen, er aber kämpfte tapfer dagegen, er sagte sich: wo andere durchgekommen sind, da komme ich auch durch – vorwärts!

Aber das Weitergehen wurde schwerer, die Felsen rückten so nah aneinander, dass er sich wie in einem Rohre befand. Da, er saß fest. Sein Herz klopfte laut, das Grausen wühlte in seinen Nerven, er aber knirschte, die Zähne fest zusammenbeißend: Vorwärts!

Und er zwang sich, schob sich, presste sich durch. Er atmete auf; der Gang erweiterte sich. Er konnte sich aufrichten, er konnte gehen, der Gang wurde hoch und breit, wie am Anfang an der Stelle, da er ihn unter dem Altar betreten hatte. Aber plötzlich blieb er erschrocken stehen. Vor seinen Füßen gähnte ein Abgrund, der den Gang in seiner ganzen Breite durchschnitt und versperrte.

Keine Möglichkeit rechts oder links herumzukommen. Die Wände fielen senkrecht wie in einen Brunnen ab. Er trat hart an den Rand des Schachtes und hob die Lampe gegen die Felsendecke empor. Er wollte sich überzeugen, ob nicht ein Überspringen des Hindernisses möglich wäre. Aber nein, diesen Plan musste er fallen lassen, der Brunnen war zu breit, auch hing die Felsendecke zu tief herab, er wäre angestoßen und zerschellt herabgestürzt. Er zauderte. Er wollte es sich nicht sagen, dass ihm kein anderer Weg blieb, als in das schwarze gähnende Loch zu springen. Noch einmal hob er die Lampe, noch einmal spähte er umher. Nur totes Gestein überall, das sich in dunkelster Nacht verlor.

Der Gedanke umzukehren und an den ehernen Toren des Altars zu pochen und zu schreien kam ihm, aber er sagte sich, die Priester hätten gewiss schon jene Halle verlassen, niemand würde sein Schreien hören und der Oberpriester hatte es ihm ja feierlich erklärt, die Tore unter dem Altar würden sich nicht öffnen. Und dann? Wollte er nicht ein Wissender, ein Sehender werden? Ja, er wollte es um jeden Preis und sollte es sein Leben kosten, er musste vorwärts. Also, da es keinen anderen Weg gab – hinunter.

Wagen!

Er hielt die Lampe hoch und sprang ab in die gähnende Finsternis. Ein lautes Aufklatschen, die Empfindung eisiger Kälte, Wasser, aber er hatte festen Grund unter den Füßen. Ein freudiges Gefühl durchzuckte ihn. Die Hindernisse waren so eingerichtet, dass sie überwunden werden konnten, die Prüfungen konnten bestanden werden. Es war nicht auf Untergang abgesehen. Etwas wie ein Siegesgefühl regte sich in ihm. Er hielt die Lampe hoch. Er freute sich, dass sie beim Absprung nicht erloschen war. Ihn fror. Bis zu den Achselhöhlen stand er im schwarzen Wasser. „Es muss hier einen Ausweg geben“, sagte er sich, „das ist nicht das Ende, kann es nicht sein.“

Er spähte beim unsicheren Schein der Lampe umher. Nichts! Überall fielen die Felsen steil zum Wasser ab. Er stand eine Zeitlang ruhig. Er überlegte. Sein rechter Arm ermüdete, die Lampe hochzuhalten; er wechselte ab. Die Lampe in der Linken, näherte er sich vorsichtig, eine Untiefe befürchtend, der Felswand. Er betastete sie, wie suchend, mit der Rechten. Da entdeckte er eine Vertiefung, groß genug, um seine Hand hineinstecken zu können, und höher noch eine und noch eine. Hier musste er es wagen. Er fasste mit den Zähnen den kleinen Henkel der Lampe und griff mit den Händen in die Felsenritze. Mit einem Fuß suchte er im Wasser einen Stützpunkt, um empor zu klimmen. Er fand einen Felsenvorsprung und schwang sich hoch, aber er glitt aus und fiel rücklings ins Wasser. Seine Lampe entfiel ihm und erlosch, kurz und leise aufzischend.

Nun umgab ihn Nacht, schwarze undurchdringliche Nacht. „Helft mir, ihr Himmlischen“, entrang es sich seiner geängstigten Seele. Wieder stand er im Wasser, bis zu den Achselhöhlen; er zitterte vor Frost. Mit ausgestreckten Armen suchte er vorsichtig die Felswand ab. Aber die Vertiefung in ihr fand er nicht. Er hatte im Falle die Richtung verloren.

Er tastete nach rechts, nichts; er tastete sich zurück nach links, immer weiter, da fuhr seine Hand in die Spalte. Er erkannte sie an der Form. Und auch sein Fuß fand den Felsvorsprang wieder; er stellte sich auf ihn. Er blieb diesmal stehen. Er hielt sich mit den Händen an den Unebenheiten des Felsens fest. Er klammerte sich verzweifelt an. Er fühlte, tastete vorsichtig weiter, bald mit einer Hand, bald mit einem Fuße neue Spalten oder Vorsprünge findend. Er stieg. Nun war er aus dem Wasser, aber er spürte es, seine Kräfte ließen nach, fiel er noch einmal zurück, er hätte nicht die Kraft wieder empor zu klettern, und kalter Angstschweiß bedeckte ihn. Höher und höher kroch, klomm er in tiefster Dunkelheit, da stieß er, einen Stützpunkt suchend, mit seiner Hand an ein hervorstehendes gebogenes Eisen. Er ergriff es, er zog sich hoch und war oben am Rande des Abgrundes angelangt. Er wälzte sich mit dem Leib auf dem Boden. Er stand auf. Gerettet!

Er hob die Hände empor: „Dank Euch, ihr lieben Gebieter, Dank!“

Er kam mit den Händen nicht an der Decke an, aber mit ausgebreiteten Armen konnte er die Seitenwände berühren. Er hatte ja keine Lampe mehr und untersuchte mit dem Fuße vorsichtig den Fußboden, ehe er einen Schritt vorwärts machte. Er fühlte, fürchtete Löcher, Abgründe. Aber der Fußboden war eben, die Seitenwände in gleicher Entfernung. Er kam vorwärts und ging, ging. Der Weg schien endlos, die Nacht immer undurchdringlicher. Der Gang machte Biegungen, mehrmals. Zuletzt, nach einer Ecke, gewahrte er in weiter Ferne einen Schimmer. Neubelebt strebte er weiter. Der Lichtschein wuchs.

Nun konnte er Wände und Fußboden unterscheiden. Er lief. Er gelangte in ein in den Fels gehauenes Gemach. Es war viereckig. Es hatte zwei Öffnungen. Durch die eine war er hereingekommen; in der anderen lohte und brannte ein gewaltiges Kohlenfeuer. Die Flammen züngelten. Da sollte er also durch! Er besah sich noch einmal den Raum. Der einzige Ausgang war das Feuer. Ein Zurück gab es nicht. Lieber die Flammen als die Schrecken des Brunnens. Also rasch durch.

Er rannte durch das Feuer und durch die züngelnde Lohe. Er blieb erstaunt stehen, ein leichter kühler Luftzug umwehte ihn, er hatte keine Glut gespürt. Das Feuer war nur geschickte Spiegelwirkung. Er lächelte leise und ging vorwärts. Der breite Gang war jetzt nur von hinten her halb erleuchtet.
Er kam in ein kleines Gemach, das mit Teppichen belegt war und durch eine an der Decke hängende Lampe erleuchtet wurde. In der Mitte des Raumes lud ein mit bunten Kissen bedecktes Lager zum Ruhen ein. Zwei Sklaven traten ihm entgegen.
Er erkannte sie; er hatte sie von ferne in den Feldern und Gärten des heiligen Bezirkes arbeiten sehen. Schon wollte er sie anreden, da fiel ihm das Wort „Schweigen“ ein.

Gewagt habe ich manches, dachte er, nun kommt wohl die Prüfung des Schweigens. Der eine der Sklaven nahm ihm sein nasses Lendentuch ab und reichte ein anderes, trockenes. Er hüllte ihn in einen warmen wollenen Mantel und lud durch eine Handbewegung zum Ruhen ein. Der andere Sklave stellte einen niedrigen Tisch ans Lager und brachte Speise und Trank. Dann verschwanden sie stumm. Hinter den Teppichen fiel eine Tür ins Schloss. Der Jüngling ließ es sich gut schmecken. Hatte er doch drei Tage gefastet. Er war zu müde um aufzustehen und die Tür zu untersuchen. Er war froh, ruhen zu dürfen. Er legte sich aufs Lager. Es schien ihm, als brenne die Lampe weniger hell.

Da hob sich der Vorhang und eine Nubierin trat herein, schlank und braun, die jugendlichen Formen voller Kraft und Anmut, eine Schärpe aus roter Seide wand sich um ihren Unterleib und ließ goldene Fransen hängen. An den Oberarmen und Fußknöcheln klirrten und glänzten goldene Spangen. Die kleinen festen Brüste waren bloß. Ihre Augen leuchteten, lockend, verheißend. Ihre Lippen waren rot und voll wie das blühende Blatt einer Blume. In der Rechten hielt sie eine Schale mit Wein. Die Linke stemmte sie auf die Hüfte.

Der Jüngling hatte sich auf seine Arme gestützt aufgerichtet. Er starrte die wunderbare Erscheinung an. Sie aber lächelte leise. Ihre Augen, ihre Lippen schienen etwas zu wollen, zu versprechen. Sie machte ganz kleine Schritte. Die Spangen an ihren Fußknöcheln klirrten kaum hörbar. Sie näherte sich ihm. Schon roch er den Duft, den sie ausstrahlte. Da beugte sie sich zu ihm hinab. Sie bot ihm die Schale. „Du hast gesiegt, o Jüngling“, flüsterte sie, „hast die Prüfungen bestanden, empfange den Lohn, den du verdienst. Nimm die Schale. Trink den Wein. Kraft wird er dir geben zur Liebe. Meine Lippen harren der deinen. Mein jugendschöner Körper verlangt nach dir, Jüngling. Empfang’, empfange den Lohn.“
Er aber schwieg, war das der Lohn oder war es eine neue Prüfung? Er schwankte.
Sie aber legte ihre dunkle Hand auf seine Schulter: „Warum schweigst du, seltsamer Gast? Oder gefalle ich dir nicht, sprich!“

Da fiel ihm das Wort „Schweigen“ ein. Wissen wollte er, erkennen, können.
Er stieß das Weib rau von sich, so rau, dass die goldene Schale klirrend auf den Boden fiel. Die Versucherin schrie auf und entfloh.

Der Vorhang aber war zurückgezogen und aus einer in der Wandtäfelung verborgenen Tür trat der Oberpriester ein mit einem großen Gefolge von Priestern, alle weiß gekleidet. „Heil dir, mein Sohn, du hast die Prüfungen der Erde, der Luft, des Wassers und des Feuers bestanden. Du hast Mut und Willen bewiesen. Du hast aber auch Weisheit und Erkenntnis dem flüchtigen Rausche der Sinne vorgezogen. Du hast dich selbst überwunden. Was du begehrst, soll dir werden. Der Plan der Welten, der Sterne Werdegang wird sich vor dir entrollen. Du sollst die Lebenswelle aus dem Schoße der Gottheit strömen und zu ihr zurückkehren sehen. Du sollst die Wanderung der Geister durch die Zeitalter verfolgen, auf jede Frage soll dir Antwort werden. Die Sonne des Osiris wird dir strahlen. Heil dir!“

„Und nun komm“, sagte der Oberpriester und fasste den Jüngling an der Hand.
Die Priester folgten zu zweien und sangen die uralten Rhythmen: „Rühmet Osiris, die strahlende Sonne, Schöpfer der Welten, Lenker der Zeiten.“
Durch Tempel und Höfe bewegte sich der Zug in eine Halle, in die der Vollmond magisches Licht warf. In der Mitte ein kleiner Teich.
Der Oberpriester sprach: „Heute beginnt für dich ein neues Leben. Du hast Tiefes, Einschneidendes erlebt, du wirst es nie vergessen können. Der heutige Tag teilt dein Leben in zwei gleiche Teile: hinter dir deine unwissende Jugend, vor dir ein lichtbeschienener, aufwärts führender Weg. Der heutige Tag hat dich Neues nicht gelehrt. Er hat nur bewiesen, dass du wagen, schweigen und über deine Sinne herrschen kannst. Das aber, was du hier lernen wirst und was du später bei deiner Einweihung siehst, wird dich zu einem anderen machen, der wissend seinen Weg gehen wird, von der Geburt zum Tode und durch die Reiche des Todes und Lebens hindurch. Steige in diesen Teich, mein Sohn, und vollziehe die heilige Waschung.“

Der Jüngling stieg ins Wassergrab.

„Dieses Wasser sei ein Grab deiner Vergangenheit. Indem du hineinsteigst, legst du sie ab. Dieses Wasser sage dir aber auch beim Heraussteigen, dass der Tod keine Macht über dich hat und dass du einst im Grabe nicht bleiben wirst. Tauche dich unter. Lass deinen Mantel und dein Lendentuch im Wasser, zum Zeichen dessen, dass auch dereinst nur deine abgelegte Hülle im Grabe bleibt.“

Der Jüngling tauchte unter und stieg empor.

„Zieht ihm das weiße Kleid der Priester des Osiris an“, befahl der Oberpriester. „Du bist jetzt unsereiner“, fuhr er fort, sich an den Jüngling wendend. „Bist unser Bruder, bist Priester, du hast den Weg betreten, stehst aber ganz am Anfang. Der Weg zählt viele Stufen. Prüfungen hast du keine mehr zu bestehen, wohl aber Belehrungen zu empfangen und die große Reise, die Einweihung zu erleben. Nun ruhe und komme morgen zur Zeit der Morgenübungen, vor Sonnenaufgang, in die große Halle.“
Der Oberpriester entfernte sich.

Ein jüngerer Priester trat auf den Jüngling zu: „Komm, ich werde dir jetzt deine Wohnung zeigen.“ Schweigend führte der Priester den Neuling durch verschiedene Gänge und Gemächer ins Freie. Ein leuchtender Mond erhellte die bläuliche Nacht. Ein schöner Garten, von einem Kanal durchflossen, der mit Steinen eingefasst war und mehrere viereckige Teiche speiste. Wasserpflanzen, besonders Lotosblumen. Am Ufer hohe Palmen, die lange Schatten warfen. Im Garten zerstreut kleine Häuser mit flachen Dächern. Überall Blumen und blühende Büsche. Das Ganze von hohen Mauern umgeben.

Der Jüngling schaute sich um: „Hier bin ich noch nie gewesen.“
„Dies sind die Behausungen für die unvermählten Priester. Die Neophyten betreten diesen Garten nicht.“
„Wer bearbeitet denn diese Anlagen?“, fragte der Jüngling, auf die Beete mit prachtvollen Blumen und großen Kürbissen, Melonen und Arbusen weisend.
„Sklaven.“
„Werden die für den Tempel gekauft?“
„O nein, das brauchen wir nicht.“
„Wieso?“
„Wer die letzte Prüfung nicht besteht, wer sich dem Sinnenrausch hingibt, hat sein Leben zwar gerettet, seine Freiheit aber verloren. Er darf bei Todesstrafe den heiligen Bezirk nicht verlassen.“
„Also …“
„Wenn du heute die Nubierin nicht von dir gestoßen hättest, wärst du jetzt Sklave.“
„Aber die Nubierin?“
„Die Sklavinnen kaufen wir. „Wenn es ihr gelingt, den Neophyten zu verführen, erhält sie die Freiheit. Das weiß sie und tut ihr Äußerstes.“
Der Jüngling dankte den Himmlischen im Stillen und fragte: „Wenn ich aber aus dem Brunnen nicht herausgefunden hätte?“
„Wir haben mehr als einen Leichnam von dort herausgeholt.“
„Schrecklich!“
„Nicht jeder taugt zum Priester des Osiris. Wir bereden keinen. Auch dir stand es frei zurückzutreten. Die Tore des Altars aber öffnen sich nicht für den Zurückkehrenden. Vor einigen Jahren verhungerte ein Neophyt, der vor dem Abgrund umgekehrt war, unterm Altar. Aber dies hier ist deine Wohnung.“ Er wies auf ein sauberes kleines Haus, das unter dem Schatten einiger mächtiger Palmen stand.
„Wenn du Freunde oder Verwandte empfangen willst, so kannst du es in den Vorhallen der Tempel tun. Hier haben nur die Priester und ihre Sklaven Zutritt. Deine Verwandten werden sich freuen, dich im Gewand des Priesters zu sehen. Und nun ruhe. Vor Sonnenaufgang werde ich dich abholen zum Oberpriester.“
Der Jüngling warf sich auf das Lager seines Hauses. Durch Tür und Fenster strich die kühle Nachtluft. Er bedeckte sich mit einer Decke. In den Teichen unter den Lotosblumen quakten Frösche. Müde von all dem Erlebten war er bald eingeschlummert.

Am anderen Morgen versammelten sich die Priester vor Sonnenaufgang in der heiligen Bibliothek. Der Neophyt war unter ihnen. Kurz vor Sonnenaufgang gingen sie im feierlichen Zuge zwei und zwei aus der Bibliothek zu zwei riesengroßen Statuen, die in heiliger Meditationsstellung sitzend die Hände auf den Knien hielten. Der Zug harrte des Sonnenaufgangs. Als die Sonne hinter den Bergen emporstieg und den gelblichen Sand der Wüste stärker leuchten ließ, fielen die Priester auf ihr Angesicht. Als die Sonnenstrahlen den Mund der Statue berührten, gab die riesige Bildsäule einen klingenden Ton von sich, wie eine zersprungene Saite. Die Priester erhoben sich.

Der Oberpriester wandte sich zum Neophyten. „Du bist jetzt unsereiner“, sagte er. „Doch jeder von uns hat die Bestätigung seiner Priesterschaft aus dem Munde dieses toten Steines erhalten; auch wir werden die Gottheit fragen, ob sie das in dir angefangene Werk vollenden will. Und der Stein wird dir, dem Sonnenkinde, antworten, wie er den Morgengruß der Sonne mit klingendem Ton erwidert hat.“

Die Priester stellten sich im Halbkreis vor die Bildsäule und sangen rhythmisch, im Takt. Sie sangen zuerst in „C“, im ersten Ton der Skala: „Osiris, Osiris, mächtiger Herrscher, schicke die Antwort dem flehenden Sohn.“
Sie sangen in „D“, im zweiten Ton der Skala: „Isis, Isis, erhabene Mutter, schicke die Antwort dem flehenden Sohn!“
Dann sangen sie in „E“, im dritten Ton der Skala: „Horus, Horus, göttlicher Geist, schicke die Antwort dem flehenden Pilger!“
Sie sangen in „F“, im vierten Ton der Skala: „Der die Gesetze alle erfüllt, zu halten gewillt!“
Sie sangen im „G“, im fünften Ton der Skala: „Der die Götter fürchtet und ehrt, der ein Gott zu werden begehrt!“
Dann sangen sie in „A“, im sechsten Ton der Skala: „Der in Liebe zur Schönheit erwacht, dass die Liebe zur Schönheit ihn macht.“
Und dann sangen sie in doppelter Stärke in „B“, dem siebenten Ton: „Osiris und Isis und Horus, ihr drei, gebt uns das Zeichen, lasst euch herbei! Ist er willkommen euch
als euer Sohn, muss auch der tote Stein geben den Ton.“

Und als die Priester den siebenten Ton ausgesungen, erklang vom Munde der Bildsäule derselbe klingende Ton wie bei Aufgang der Sonne.

„Heil dir! Heil dir! mein Sohn“, sprach der Oberpriester, „selbst die Steine müssen reden, müssen dir sagen, dass die Götter dich gesegnet.“

Eine Hymne singend, schritten die Priester zu zweien zurück zur Bibliothek.
Ihr weißer Zug verschwand im dunklen Tor.